Ist es Liebe? Eine schwierige Frage in einer herausragenden Zeit

Wie fühlt es sich an, wenn Sie Liebe empfinden für einen Menschen? Was geht da körperlich und hormonell vor sich? Sollte „Liebe“ gehütet werden wie ein kostbarer Schatz, den man nur mir ganz wenigen teilt? Oder vermehrt sich „Liebe“, wenn wir es wagen, diese zu verschwenden und zu verschenken? Und ganz wichtig: Welche Konsequenzen müssen wir tragen, wenn wir danach streben, Liebe für viele Menschen zu empfinden – müssen wir uns dann um alle kümmern, bis wir in Aufgaben und Sorgen ersticken? Ein paar Gedanken zu Liebe im Allgemeinen und im Besonderen -und ein paar Tipps, wie man Lieben ganz praktisch lernen kann (wenn man denn will).

Ich als „alter Katholik“empfinde das Wort von Jesus „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ so wie eine strahlende Sonne von liebe_1innen. Fühlt sich gut an, das auszusprechen oder auch nur zu denken. Und ich bin immer erstaunt, wie leicht es den Menschen zu fallen scheint, Tiere zu lieben (man sieht es an den vielen, vielen Tiervideos bei Facebook und Co). Doch wenn es um Liebe zu Menschen geht, sieht das ganz anders aus. „Liebe“ wird verbunden mit Werten, die man bewusst nur mit ganz Wenigen teilen möchte: In der Zweierbeziehung, zu Kindern, Enkeln, Eltern, mit sehr engen Freunden.

Ich kann das gut verstehen. „Liebe“ hat schließlich auch etwas zu tun mit Körperlichkeit und Vereinigung, geht schon ganz schön tief, wenn man Liebe empfindet für einen Menschen. Da denke ich auch an Situationen, wo ich in Notlagen pflege und die Hand streichle, wo ich zuhöre und verstehe, wo ich mich selbst vergesse, weil ich mich ganz in mein Gegenüber hinein versetze und Bewunderung empfinde für die Großartigkeit und Einzigartigkeit dieses Wunders Mensch.

Empathie und Liebe – gibt es Unterschiede?

In unserer globalisierten Welt, die digital in Echtzeit miteinander verbunden ist, erleben wir eine extreme Polarisierung der Gefühle. Die Menschen fühlen sich verständlicherweise überfordert von so viel Menschlichkeit, die auf sie hereinprasselt. Schnell versucht der Verstand, zu beurteilen, ob es sich lohnt, etwas zu lieben oder abzulehnen, es in das eigene Gefühlssystem aufzunehmen oder zu verstoßen. Bei Baby-Tieren ist das für die allermeisten Menschen kein Problem: Sie sehen so ein hilfloses, kaum geprägtes Wesen mit reduzierten Bedürfnissen nach Schutz, Nahrung, Wärme – und in ihren Herzen regt sich automatisch ein Wohlgefühl, das man körperlich wahrnehmen und beschreiben kann: Kribbeln, verstärkte Aktivität der Nervenzellen, Temperaturerhöhung, Flüssigkeits-Bildung, Aktivität des Herzens…. Manche Menschen sind regelrecht süchtig nach diesen Videos wie nach einer Liebes-Droge.

Ja, wir versetzen uns hinein in diese hilflosen Wesen, erinnern uns an Situationen, in den wir selbst Schutz und Wärme so dringend gebraucht hätten. Unser Mitgefühl mit unserem eigenen inneren Kind macht es uns leicht, uns in einzufühlen und Liebe zu empfinden. Tiere wollen nichts von uns, sie stellen keine Ansprüche und klagen keine Verträge ein, sie erdulden Schmerz und Furcht ohne Anspruch an uns – das macht Mitgefühl leicht. Wir dürfen unsere Liebe geben – müssen aber nicht.

Sich in einen Menschen hineinzuversetzen ist da weitaus riskanter. Was ist, wenn der Mensch durch unsere Zuwendung beginnt, Ansprüche an uns zu stellen und sich an uns klammert? Was ist, wenn unser Mitgefühl und unsere Zuwendung dazu führen, dass dieser Mensch uns nicht mehr in Ruhe lässt? Könnte es sein, dass die Verwirklichung des Satzes „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ dazu führt, dass wir zugrunde gehen an dem Leid und den Forderungen unsere Mitmenschen?

Empathie zu spielen ist nicht möglich. Entweder wir wagen es, uns in Menschen hineinzuversetzen und sie wirklich zu verstehen, oder wir benutzen Schubladen, kategorisieren sie und versuchen, funktionierende Reaktionen für bestimmte Zielgruppen zu entwerfen. Politik, Wirtschaft, NGO’s und alle Erziehungsanstalten versuchen, mit solchen Kategorisierungen sich vor der echten Herausforderung zu schützen: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ auch auf ADHS-Kinder in der Grundschule anwenden? Oder auf den Alzheimer-Senioren, der als Bewohner eines Pflegeheims mit seinen ungezügelten Emotionen alles um ihn stört und behindert?

Kann man „Liebe“ lernen?

Ich selbst, die ich ja viel unterrichte und coache, die ich früher in Kindergärten, Altenheimen und Grundschulen gearbeitet habe, und deren Geschäftsfeld heute daraus besteht, Menschen und Anspruchsgruppen zu verstehen und mit ihnen gemeinsam Win/Win-Strategien zu entwickeln, habe keine andere Wahl, als mich in der Kunst der „Liebe“ zu üben. Ebenso wie ein Künstler, der eine Situation nur dann ergreifen kann, wenn er sie durchdringt, kann auch ich die mir anvertrauten Menschen nur dann durchdringen, wenn ich mich frei mache von meinen Urteilen und sie in ihrer Einzigartigkeit und Großartigkeit erkenne. (Im Alten Testament bei Adam und Eva wird Liebe ja auch definiert als „Erkennen“).

Es ist nicht immer leicht, Zugang zu dieser Liebe zu finden – doch wenn sie erst einmal fließt, ist alles sehr einfach: Ich muss Niemandem helfen, den ich liebe, ich muss mich nicht dafür aufgeben, ich muss nicht zu Allem „Ja“ sagen, eigentlich passiert überhaupt nichts Schlimmes! Wenn ich dieses Gefühl des Erkennens erlebe, kann ich den Anderen frei lassen in seinen Entscheidungen. Ich kann akzeptieren, wenn er in einer leidvollen Umgebung lebt. Wenn es etwas für mich zu tun gibt, kann ich es tun – wenn ich nichts ändern kann, kann ich die Situation zulassen und achten. Lieben heißt nicht retten – lieben heißt, emotional, auf Augenhöhe und aus ganzem Herzen annehmen und respektieren, was da ist.

Also keine Angst vor der Liebe: Sie will nichts, sie verlangt nichts, sie ist einfach da. Je mehr man davon zulassen kann, desto reicher fühlt es sich an. Die Nachbarin lieben, die in ihrer Einsamkeit und ihrem Misstrauen versucht, so vielen Nachbarn wie möglich Schaden zuzufügen? Kein Problem – doch grüßen muss ich sie trotzdem nicht. Ich liebe sie lächelnd ganz still für mich, aber ich möchte trotzdem keinen Kontakt zu ihr, das habe ich für mich entschieden.

Ein paar Tricks, wie man lieben lernen kann

bildschirmfoto-2016-09-25-um-11-41-06Zunächst ist es wichtig, herauszubekommen, welche Menschen Schwierigkeiten machen bei der „Liebe“. Ich habe das besonders direkt erfahren in meiner Zeit als Pädagogin in der Zusammenarbeit mit Kindern. Da gab es zum Beispiel einen kleinen autistischen Jungen aus dem Kongo, der in seiner traumatisierten Emotionalität den Alltag im Kindergarten störte. Ich habe einen Tag lang alles nachgemacht, was der kleine Junge machte, wie ein Spiegel habe ich alles direkt kopiert – ohne zu werten, ohne zu beurteilen, habe mich einfach eingefühlt. Meine Kolleginnen habe ich natürlich vorher darüber informiert, und sie haben es lächelnd hingenommen, wenn ich mich auf den Boden schmiss, merkwürdige Laute von mir gab und mit den Augen rollte. Aber der eine Tag reichte! Ich kannte diesen kleinen Jungen plötzlich so gut, dass wir Freunde wurden und er mir sein Vertrauen schenkte. Trotzdem habe ich nichts getan, um die Abschiebung seiner Familie zu verhindern. Es war eine empathische Begegnung, die uns Beide in unserem Schicksal freigelassen hat – ich hätte keine Einmischung in sein Leben oder das seiner Familie gewollt.

Also Trick Nr. 1: Mal einfach alles nachmachen, was man sieht. Kann man ja heimlich abends zu Hause tun, wenn Keiner zuguckt. Hilft enorm, um unsympathische Menschen plötzlich zu verstehen. Und es macht Spaß!

In der Grundschule gab es einen sechsjährigen Jungen, der extrem seine Männerrolle spielte. Frauen waren für ihn allem Anschein nach niedere Wesen, die dazu da waren, ihn zu bedienen. Er konnte erstaunlich viele sexistische Aussprüche, die oft genug so unter die Gürtellinie gingen, dass sie sicher bei Facebook in einem Kommentar gesperrt worden wären. Ich hatte das Glück, an einem Tag allein mit ihm gemeinsam ein gemeinsames Bastelprojekt zu erstellen. Das nutzte ich, um ihn nach seiner Mama, seinem Leben, seinen Sorgen und Wünschen zu fragen. Eine einzige Stunde reichte aus, um ihn zu verstehen. Nun konnte ich ihn bewundern für seine Kraft, seine Entschlossenheit und seinen Mut, seine Mama zu verteidigen, indem er genau so war, wie er war – was für ein wunderbarer Sohn! Trotzdem konnten wir uns nach dieser liebevollen Stunde als Kameraden die Hand reichen und Jeder konnte wieder in sein Leben zurück. Ich musste weder das Jugendamt einschalten noch verhindern, dass er die erste Klasse wiederholte. Es gab Dinge, auf die ich Einfluss hatte und andere, bei denen ich mich zum Michael Kohlhaas gemacht hätte – das wollte ich nicht. In allem Respekt.

Also Trick Nr. 2: Wenn Sie einen Menschen nicht leiden können, loben Sie ihn und fragen Sie ihn nach seiner Kindheit. Das wirkt Wunder, setzt allerdings voraus, dass wir bedingungslos zuhören, ohne unseren eigenen Erfahrungen und Werte in das Gespräch einbringen.

In einem anderen Kindergarten gab es einen Jungen (komisch, immer Jungen), der mir extrem unsympathisch war, weil er immer schwächere Kinder quälte. Permanent musste man aufpassen, dass er nicht biss, schlug, spuckte, Kinder von der Rutsche schubste, es war unglaublich. Einige anderen Kinder hatten panische Angst vor diesem Jungen, ein Blick in ihre Augen machte mich wütend und lösten in mir den Wunsch aus, den Jungen durch Strafen und Bedrohungen einzuschüchtern. Doch auf solche Maßnahmen reagierte er höchstens mit gesteigerter Aggression – also war das auch kein probates Mittel. Was tun? Ich fragte meine Dozentin um Rat, die nicht nur pädagogisch, sondern auch als Philosophin und Anthroposophin eine Kapazität war. Sie gab mir folgenden Rat:

Also Trick Nr. 3: „Wenn Sie es nicht schaffen, Zugang zu einem Menschen zu bekommen, wählen Sie den künstlerischen Weg. Stellen Sie sich den Menschen – unabhängig seiner jetzigen Lebenssituation – vor als Stein, als Pflanze, als Tier. Welche Lebensform hätte er/sie gewählt, wenn er/sie sich als Stein, Pflanze, Tier inkarniert hätte?“

Das war wahrlich meine schwierigste Herausforderung, um Empathie, Respekt, Mitgefühl und Liebe zu entwickeln. Diese Methode eignet sich ganz sicher nicht für alle Menschen, sie erfordert einen kreativen, künstlerischen Zugang, erfordert Intuition und Zugang zu Spiritualität. Ich gebe zu, dass es mir bis heute nur selten gelungen ist, so tief in einen Menschen hineinzukriechen, dass ich ich sein Wesen ergreifen konnte auf dieser tiefanspruchsvollen Ebene. Damals habe ich mir in meiner Not (ich musste ja einen Weg finden – als Pädagogin bin ich verpflichtet, all diese mir anvertrauten Menschen zu lieben) Papier und Stifte genommen, und drei Bilder gemalt von meinem Jungen: Einmal als Stein, einmal als Pflanze, einmal als Tier. Es hat tatsächlich geholfen, allein weil ich mehrere Stunden intensiv versucht habe, urteilsfrei einzudringen in sein eigentliches Wesen.

Fazit: Sollte man den Begriff „Liebe“ vor der Bagatellisierung schützen?

Ich denke, meine Einstellung dazu ist klar geworden: Mit Geiz an Liebe heranzugehen, ist nicht nur unmenschlich, sondern dumm. Das wäre so, als wenn ich kostbaren Samen in einem dunklen Sack im Keller verstecke, um diesen Samen vor Dieben zu schützen. Samen muss ausgestreut werden, muss die Chance bekommen, zu wachsen und Frucht zu bringen. Auch wenn ich nicht der Typ „Sorgsamer Gärtner“ bin, kann ich zumindest dem Samen seinen Weg und seine Möglichkeiten gönnen. Das Schöne daran ist, dass ich frei werde von Verträgen und Ansprüchen andere Menschen.

Abschließen möchte ich mit diesem wunderbaren Video eines Sohnes, dessen Vater Alzheimer hat. Durch Zufall stellte der Sohn fest, dass sein Vater immer, wenn sie im Auto Karaoke-Musik hören, anfängt, Lieder perfekt und textgetreu zu singen. Man sieht, wie glücklich es die Beiden macht, nun häufiger zusammen Auto zu fahren und zu singen. Danke, dass der Junge uns allen diese kleinen Videos über YouTube schenkt: Ist es nicht Liebe, dass er nicht damit geizt sondern verschwenderisch die ganze Welt daran teilhaben und miterleben lässt, was Liebe ist? Trotzdem muss der Junge nicht sein Leben aufgeben und sich aufopfern für diesen Lebensabschnitt seines Vaters – es ist wie es ist, sagt die Liebe. Gefällt mir 🙂

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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One thought on “Ist es Liebe? Eine schwierige Frage in einer herausragenden Zeit

  • Reply Sabine Krieger 11. Oktober 2016 at 11:51

    Liebe Eva,
    das ist ein sehr schöner Beitrag.
    Auch wenn er sehr emotional wirkt, für mich bedeutet dieser Inhalt auch hinsichtlich Geschäft aus Erfahrung: Du kannst nur erfolgreich verkaufen, wenn Du liebevoll mit Dir selbst und mit Deinen Mitmenschen umgehst. Ohne diese „Grundliebe“ ist es kaum möglich, die Bedürfnisse des Gegenübers zu erkennen und passend sowie nachhaltig zu agieren. Nachhaltig im Sinne von „Gegenüber würde mich weiterempfehlen“ und „Gegenüber kommt gern wieder“. Natürlich ist im Privatbereich die liebevolle Grundhaltung genauso hilfreich wie schön. Auch wenn es nicht immer klappt. Aber mit der Zielsetzung, es zu wollen, kann man sich selbst weiter entwickeln.

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