Twitter in der Krise – kann man zur Not zu Facebook wechseln?

Eva Ihnenfeldt: Twitter wird im März 2016 zehn Jahre alt – und steckt gründlich in der Krise. Als ich Twitter im Mai 2009 kennenlernte, war der Microbloggingdienst so etwas wie die Manifestation der „Web 2.0-Graswurzelbewegung“. Jeder Programmierer konnte sich mit eigenen Tools an die offene Twitter-Schnittstelle hängen, es gab unzählige Zusatzdienste, die findige Tüftler ersonnen hatten. Man konnte ich über Twitter-Tools zum „Twittagessen“ mit Fremden verabreden, konnte sich Maps und Listen mit Twitteranern erstellen nach Themen, Accounts oder Regionen, konnte Tipps erhalten, Statistiken erstellen, sich im Offline-Leben finden und vernetzen und über die berühmten Hashtags Communities zu bestimmten Themen erstellen. Nach und nach wurden all diese Graswurzel-Freiheiten eingeschränkt – Twitter zog die Kontrolle wieder an sich und versuchte, kommerziell erfolgreich zu werden und endlich Gewinne zu machen.

TwitterHeute ist für mich Twitter kaum noch interessant. Ich nutze es als Leser nur noch dann, wenn ich zu bestimmten Hashtags News in Echtzeit erhalten will. Zum Beispiel, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert ist – und ich nicht auf die offizielle Berichterstattung der Presse angewiesen sein möchte. Seit Twitter mir nicht mehr chronologisch sämtliche Tweets selbstverständlich anzeigt, sondern versucht, mich in einen Algorithmus zu zwängen, ist der komplette Überblick mühevoll geworden.

Das Herzchen statt der gewohnten „Fav“-Sterne bei Twitter mag ja für viele Menschen emotional eingängiger sein, für mich persönlich ist es eine weitere Entwertung der Persönlichkeit des Netzwerks: Mit einem Herz drücke ich „Liebe“ aus, mit einem Stern zeige ich Respekt und Anerkennung. Das entspricht eher meinem Grundgefühl bei Twitter: ich möchte Journalisten, Influencern und Bloggern meine Anerkennung ausdrücken für Infos, Inspirationen und News, aber ich liebe sie nicht – und vermute auch, dass sie keinen Wert darauf legen,von ihren Followern geliebt zu werden. Erscheint mir albern.

Facebook statt Twitter?

Kurz und gut, seit den Weihnachtsferien nutze ich plötzlich intensiv Facebook. Ausgangslage war die Flüchtlingskrise und die Erkenntnis, dass wir Konstruktiven die öffentliche Meinung beeinflussen müssen, um die Destruktiven zu schwächen und bestenfalls unsichtbar zu machen. Ich begann, täglich auf meinem persönlichen Profil 3 – bis 5 Posts zu veröffentlichen, ich reinigte meine Freundesliste von „Freunden“, die an einer lösungsorientierten Diskussion nicht interessiert zu sein schienen. Ich begann, mich einzumischen, zu kommentieren, Stellung zu beziehen, News zu verbreiten – ähnlich wie zuvor bei Twitter.

Und doch frage ich mich, ob das so funktioniert. Durch die 140 Zeichen-Begrenzung war Twitter mit der kompletten Ansicht aller Tweets leicht händelbar. In Sekundenschnelle konnte ich Mengen an Tweets durchrauschen lassen, und die relevanten identifizieren, konnte antworten und retweeten (den Tweet teilen). Facebook ist zwar visuell hübscher, aber dadurch auch unübersichtlicher. Ich brauche lange, um zwischen den vielen Tier- und Babyvideos, Urlaubsbildern und privaten Statusmeldungen die relevanten herauszufiltern. Und was das Schlimmste ist: Bei Twitter konnte ich auch täglich 20 Tweets absetzen, wenn ich ein Thema wichtig fand, bei Facebook habe ich immer die Sorge, meinen Freunden auf die Nerven zu gehen mit meinen Links zu Zeitungen, Videos, Posts und Bildern anderer Leute.

Ich halte mich daran zu beurteilen, welche Facebook-Aktivitäten von Freunden ich super finde. Da ich grundsätzlich politisch und gesellschaftlich interessiert bin, gibt es einige User und Prominente bei Facebook, die mir ans Herz gewachsen sind. An erster Stelle unter den Prominenten sehe ich Jan Böhmermann, der Social Media in all seinen Facetten nutzt und mich immer wieder staunen lässt, was mit einfachsten Mitteln möglich ist – und was mit aufwändig produzierten.

Dann habe ich einige Facebook-Freunde, die meinem Wertesystem exakt entsprechen, und die täglich mindestens drei, vier interessante Links und News weitergeben, die mich bereichern und mir (natürlich innerhalb meiner Filterblase) neue Erkenntnisse bringen und mich nachdenklich machen. Diese Sternstunden-Posts reiche ich dann auch normalerweise an meine Freunde weiter – so können sich herausragende Videos, Beiträge, Bilder und Standpunkte in kürzester Zeit viral verbreiten. Denn das, was ich gut finde, finden häufig auch viele meiner (über 900) Facebook-Kontakte gut und teilen es weiter.

Und was bringt Facebook dann fürs Marketing?

Für mich war Twitter nie entscheidend als Werbekanal. Ich habe Twitter genutzt, um mich zum Beispiel bei BarCamps und anderen Web 2.0-Formaten mit Bloggern und Influencern zu vernetzen – so wie ich mich bei Xing mit Business-Kontakten vernetzt habe. Facebook war der Kanal, bei dem ich mich mit persönlichen Kontakten in Verbindung geblieben bin – zum Beispiel mit den Teilnehmern aus unseren Weiterbildungen und/ oder meinen Kursen und Workshops.

Seit sich die Twitter-Vernetzung zunehmend hin zu Facebook verschiebt, verstärkt sich die Intensität dieser Beziehungen. Ich erlebe, dass wir uns durch die Statusmeldungen bei Facebook eher als Gleichdenkende erkennen, das Vertrauen wächst. Aus den unverbindlichen Statusmeldungen bei Facebook werden persönliche Nachrichten im Facebook Messenger, und daraus werden Telefonate, Verabredungen, Projekte. Facebook Marketing ist für mich kein Werbekanal, sondern ein Kanal. um interessante Geschäftspartner und Kunden zu gewinnen. Wir entscheiden uns füreinander durch unser gemeinsames Wertesystem.

Fazit: Facebook statt Twitter?

Seit Twitter die gleichen gewinnorientierten Ziele verfolgt wie Facebook, entfällt für mich das moralische Argument, das ich Simon_Sinek_Golden_Circle_TED_deutschviele Jahre hatte. Hätte Twitter sich entschieden, der „Web 2.0-Elite“ treu zu bleiben und eine geringe Nutzungsgebühr zu verlangen – so wie früher WhatsApp auch – wären wir weiterhin gern unter uns geblieben, hätten unsere News gern mit Nicht-Twitter-Mitgliedern geteilt und hätten die Echtzeit-News-Schleuder exklusiv genutzt, um bei Ereignissen und Themen informiert zu bleiben – doch es ist nun mal anders gekommen, ich bin bei Twitter ebenso zum Consumer und Datenbehältnis  geworden wie bei Facebook – ce la vie.

Facebook hingegen entwickelt sich seit geraumer Zeit immer weiter zur „personalisierten Volkszeitung“. Ich kann dort praktischer und umfassender Nachrichten lesen als bei Twitter. Vor allem die sich direkt öffnenden Videos finde ich hervorragend, ich schaue täglich sicher mehr als drei Videos, vor Allem von der Tagesschau, aber auch von anderen Verlagen und Medien. Und ja, auch mal etwas Unterhaltsames und Lustiges wie aus der Heute-Show.

Ich bemühe mich, meine geschätzten und geliebten Facebook-Kontakte nicht zu nerven mit einer übereifrigen Eva-Mission, die die Welt erziehen will, weil ihre vier Kinder nun alle groß sind und sich das nicht mehr gefallen lassen 😉 . Dabei orientiere ich mich an den Facebook-Freunden, die mir persönlich den größten Mehrwert bringen. Frei nach dem Sprichwort „Was Du willst, was man Dir tu, das füg‘ auch Deinen Facebook-Freunden zu“ prüfe ich bei allen Posts, die mich interessieren, ob ich diese wirklich weitergeben will. Ansonsten belasse ich es beim Liken – und ab und zu auch beim Kommentieren.

Und dass diese Haltung tatsächlich im Marketing erfolgreich ist, beweist der Werbe-Profi Simon Sinek in diesem berühmten TED-Vortrag (mit deutschen Untertiteln – 20 Minuten, die sich lohnen!), mit dem ich immer wieder bei meinen Marketing-Lehraufträgen einen Höhepunkt setze: Entscheidend ist nie, WAS Du tust mit Deinem Unternehmen und Produkt – entscheidend ist, WARUM Du es tust – und eins ist klar, egal, warum Du etwas tust, die Menschen (Kunden, Lieferanten, Partner und Stakeholder) müssen lieben, WARUM Du tust, was Du tust. Und seien es die größenwahnsinnig skupellosen Visionen eines Donald Trump…. seufz…

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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One thought on “Twitter in der Krise – kann man zur Not zu Facebook wechseln?

  • Reply Newsletter der SteadyNews vom 29. März 2016 - Steadynews | 5. April 2016 at 08:14

    […] Twitter in der Krise – kann man zur Not zu Facebook wechseln? Eva Ihnenfeldt: Twitter wird im März 2016 zehn Jahre alt – und steckt gründlich in der Krise. Als ich Twitter im Mai 2009 kennenlernte, war der Microbloggingdienst so etwas wie die Manifestation der „Web 2.0-Graswurzelbewegung“… […]

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