Ist es naiv, Social Media zu nutzen? Oder ist es naiv, Daten zu schützen?

Eva Ihnenfeldt: Ich nutze ausgiebig mein Google-Konto, lese meine persönlich zusammengestellte Online-Zeitung öffentlich über Feedly, gebe meine Musiklisten bei Spotify frei, bin auf Facebook, Twitter und Xing aktiv – und habe wirklich den Überblick verloren, wer außer WhatsApp alles auf meine Daten und Kontakte im Smartphone zugreift. Bin ich nun naiv, weil ich ein gläserner Mensch bin? Rede ich mich mit „Ich habe ja nichts zu verbergen“ heraus, weil ich ein bequemer Konsument bin, der zu träge oder unwissend ist, um die eigenen Daten zu schützen? Oder sind vielleicht gerade diejenigen naiv, die sich bemühen, im Web so unsichtbar wie möglich zu sein und keine Spuren zu hinterlassen?

Ich weiß noch, wie es war, als Edward Snowden uns aufrüttelte. Als wir alle erfuhren, dass der US-Geheimdienst nahezu edward-snowden-294154_640lückenlos die ganze Welt ausspionierte – inklusive der eigenen Bürger. Ich weiß noch, wie ich mich etwa ein halbes Jahr vor diesem denkwürdigen Tag selbst für einige Wochen oder Monate abgehört fühlte, weil nach einer ungerechtfertigten Hausdurchsuchung wegen einem Blogartikel die Hacker-Organisation Anonymus etwas unternehmen wollte gegen das Amtsgericht Lübeck.
18.4.2013 bei SPIEGEL: Hausdurchsuchung nach Blogartikel

Anonymus, die ich nur aus den Medien kannte, hatte mir aus dem Nichts heraus per E-Mail geschrieben, dass sie einen Hackerangriff gegen das Amtsgericht planten, und ein bekannter Journalist meinte zu mir, ich könnte mich darauf gefasst machen, deswegen nun erst mal interessant für den Verfassungsschutz zu sein. Tatsächlich hatte ich eine Zeitlang das Gefühl, mit meinem Rechner wäre etwas anders als sonst. Mag sein, dass das Einbildung war, mag sein, dass man wirklich Stichproben gemacht hat, aber für mich war auf jeden Fall spannend, wie ich auf die eventuelle Abhöraktion reagierte: Es war mir egal! Das Einzige, was ich dachte war: „Sollen sie doch!“

Es fühlte sich gut an, dass ich mich als Einzige von über hundert Betroffenen gegen diese Hausdurchsuchung-Willkür gewehrt hatte und an die Öffentlichkeit gegangen war. Es fühlte sich gut an, dank der Medien und unzähliger Unterstützungen von Bürgern nicht wehrlos zu sein. Was wäre vor Zeiten des Internet gewesen, wenn ich so etwas erlebt hätte? Wie hätte ich mich wehren können, wenn ich keinen Blog, kein Twitter, keine Community gehabt hätte? Hätte ich dann auch vor dem Verfassungsgericht gewonnen? Lag es nicht an meiner Stimme und meiner Öffentlichkeit, dass ich Gerechtigkeit einfordern konnte?
SteadyNews vom 17.3.2016: Vor dem Bundesverfassungsgericht gewonnen

Meine Nachricht an die „Unsichtbaren

Sorry, aber mal ehrlich, Ihr „Unsichtbaren“ und Obervorsichtigen, die Ihr nur im Internetcafe anonym ins Web geht und die Ihr Euch bemüht, ohne Smartphone und identifizierbare E-Mail-Adresse durchs Leben zu gehen, die Ihr kein Online-Banking macht und keine EC-Karte nutzt, um keine Daten preiszugeben – meint Ihr wirklich, es ist ein Zeichen von Klugheit, wie Ihr Euch verhaltet? Meint Ihr wirklich, dass Euer Verhalten Euch schützt vor Verfolgung, Überwachung, staatlicher Willkür?

Zum Einen bin ich ganz sicher, dass jeder Bürger, der sich so verweigernd verhält, schon mal eher verdächtig ist, irgendetwas zu verbergen zu haben. Von daher glaube ich auf keinen Fall, dass es ein Schutz ist vor Überwachung – eher ein Anlass, womöglich mal überwacht zu werden 😉 Aber vor Allem bin ich davon überzeugt, dass gerade in autoritären Regimen und in Regimen, die Blogger fürchten, einsperren und foltern, Social Media und die digitale Kommunikation die stärkste Waffe ist, die den Rebellen und Dissidenten zur Verfügung steht. Der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei hat genau das gesagt: „Das einzige Mittel, mich noch auszudrücken, bietet mir das Internet.“
Blouinartinfo: Weiwei lässt sich das Twittern nicht verbieten

„Stell dir vor, eines Tages bricht die hasserfüllte Welt um dich zusammen. Und es waren deine Haltung, deine Worte und Handlungen, die ihr Ende bereitet haben. Wird dich das nicht freuen?“
— Ai Weiwei (@aiww) auf Twitter

Ich wünschte von Herzen, dass ALLE Menschen anfangen würden, an sich und ihre Wichtigkeit zu glauben, mit offenem Visier zu schreiben und zu sprechen. Was bringt denn das Verstecken außer die ständige Angst, doch entdeckt werden zu können? Ist es nicht sehr viel politischer und mutiger, sich öffentlich zu äußern und gemeinsam mit vielen anderen Menschen für Menschlichkeit und friedensstiftende Werte zu kämpfen?

Sind die „Unsichtbaren“ die Naiven?

wire-84483_640Nein, Ihr „Unsichtbaren“, ich glaube, Ihr seid meistens einfach sehr ängstlich und traut Euch nicht, Ihr selbst zu sein. Ich glaube, Eure mühevoll aufgebaute Strategie, unsichtbar zu sein, ist traurig, da Ihr mit Eurem Verhalten vor Allem Euch selbst beschränkt. Im Nationalsozialismus – also lange bevor es Internet gab – dauerte es wenige Monate, bis alle Widerständler gegen Hitler unschädlich gemacht wurden. Nachbarn, Verwandte, Machtverliebte, Feiglinge, Neidische und Gierige sind viel zuverlässiger als das Internet, um auszuliefern, was nicht ins Weltbild oder die herrschende Meinung passt.

Sollte ich jemals in die Situation kommen, dass ich in den Untergrund muss, muss ich sowieso von Grund auf ganz anders denken und agieren. Bei Edward Snowden und anderen Helden sieht man ja, wie schwierig das ist, das sind andere Herausforderungen als keine Cloud-Dienste zu nutzen oder Online-Banking zu vermeiden. Ich halte es für naiv, sich einzubilden, man könnte sich individuell aus dem raushalten, was passiert ist: Es gibt keine informationelle Selbstbestimmung mehr – wir sind gläsern.

Ist Politik eine mögliche Lösung?

Ich fordere von der Politik, dass sie sich endlich wieder für dieses Grundrecht einsetzt. Dass wir gemeinsam Methoden und Regeln entwickeln, um das umzusetzen. Wenn über 1.000 Datensammler das komplette Internet weltweit lückenlos überwachen, analysieren und die Daten an jeden zahlungskräftigen Kunden verkaufen, gibt es keine individuellen Lösungen – und es gibt auch keine nationalen Lösungen.

Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran, dass die Politik etwas tun kann, da es sich um ein globales Phänomen handelt. Ich denke, die nachdenklichen und bewussten Menschen sollten so handeln wie Ai Weiwei. Sie sollten klar und deutlich ihre Stimme erheben, wo auch immer sie sind: Für Menschlichkeit, für die Schwachen, für alle fühlenden Wesen, für eine friedliche Welt, in der Jeder selbstbestimmt sich frei entfalten kann. Je mehr das tun, desto unmöglicher ist es für ein Regime, das zu unterbinden. Sich unsichtbar zu machen, ist eventuell sogar ein Stehlen aus der Verantwortung. Meine Meinung.

 

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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