Kirchen und Markenkerne: Das „Alle“-Problem

Wofür stehen wir?

Das sollte man als Kirchengemeinde ja eigentlich schnell und gut beantworten können. Ob evangelisch oder katholisch: Es gibt gewisse Grundwerte, die das Christentum inspiriert haben. Im Prinzip wäre die Frage nach dem Markenkern der Gemeinde damit auch schon erledigt, aber so einfach ist das dann leider nicht. Denn zwar sind die Grundwerte im Christentum zwar gleich – aber die Art und Weise wie diese Grundwerte gelebt oder praktiziert werden differiert stark von Gemeinde zu Gemeinde. Ich nehme mal jetzt den Unterschied zwischen Evangelisch, Katholisch, Freikirchlich, Pfingstlerisch etc. pp. bewußt aus – aber auch das gehört zur Frage nach dem wofür man steht natürlich dazu. So wird der Status von Jesu Mutter Maria von katholischer Seite aus anders betrachtet als von der evangelischen. Sicherlich findet hier dann schon eine erste Differenzierung statt. Doch davon soll hier nicht die Rede sein sondern von der Frage, wie sich eine Gemeinde selbst definiert. Und da haben wir dieses ominöse „Alle“ – eine Gemeinde soll für alle Christen zugänglich und offen sein. Vom Kindergarten bis hin zur Beerdigung deckt die Gemeinde die Grundfunktionen des christlichen Lebens ab. Konfirmation, Hochzeiten, Weihnachten sind hochemotionale Höhepunkte im Leben, die man natürlich dann besonders feiern möchte.

Die Frage, wofür eine Gemeinde denn nun wirklich steht und der Begriff Markenkern sind vielleicht ketzerisch. Formuliere ich das aber um und frage: „Was sind die Tugenden der Gemeinde?“ befinde ich mich durchaus auf vertrautem Terrain. Christliche Tugenden sind uns mehr oder weniger geläufig und vertraut. Und sicherlich sind Gemeinden immer bemüht die Ansprüche der Gemeindemitglieder zu erfüllen. Aber die lokalen Gegebenheiten bringen dieses Bemühen auch immer wieder ins Schwanken und lassen es bisweilen scheitern. Auf dem Land etwa sieht die Gemeinde anders aus als in der Stadt. Das Erntedankfest einer „Dorfkirche“ etwa verläuft ganz anders als das in der Stadt. Würde man versuchen die erfolgreichen Strukturen einer Gemeinde zu übernehmen ohne sie zu adaptieren wären sie zum Scheitern verurteilt. Weil sie nämlich nicht den Tugenden der Gemeinde vor Ort entsprechen sondern künstlich aufgepfropft sind. Doch für welche Tugenden steht denn eine Gemeinde? Und warum ist das so schwer diese Frage zu stellen ohne erstaunt angesehen zu werden?

Dinge, die immer schon so gemacht wurden

Weil mit dieser Frage etwas Empfindliches berührt wird: Das eigene Selbstverständnis nämlich. Wo kommen wir denn dahin, wenn Kirchengemeinden sich auf einmal wie Betriebe nach Sinn und Nutzen fragen lassen müssen? Das entspricht doch gar nicht der christlichen Tradition! Und dann überhaupt dieses Marketing-Gewäsch – das hat in der Wirtschaft doch sicherlich seine Berechtigung, aber in der Kirche? Um Gottes Willen! Nur nicht!

Es wäre so schön, wenn Kirche außerhalb der Wirtschaft stehen würde. Aber auch Kirche muss wirtschaften. Sie muss mit ihren Mitteln haushalten und diese Mittel so vernünftig und angemessen verwenden wie es ihrem Auftrag zusteht. Stellen wir das doch erstmal sachlich fest. Dass Kirchengemeinden allerdings anderen moralischen Werten und einem anderen Kodex verpflichtet sind ist auch unbestritten. Die Frage nach Tugenden nach denen die Kirche handelt – und damit auch die Gemeinde vor Ort – ist aber essentiell wichtig, weil nur durch die Besinnung darauf was man kann und was man erreichen möchte man für die Zukunft planen kann. Dass die Einstellung „Wir sind für ALLE da“ sehr lobenswert ist, aber in der Praxis kaum umzusetzen – zu wenig Personal, zu wenig Zeit, zu wenig Geld – ist eine bittere Erkenntnis. Das heißt natürlich nicht, dass Kirche jetzt vom allgemeinen Inklusionsgedanken Abschied nehmen muss, das sei ferne. Es heißt aber, dass Gemeinde sich bei der Fortentwicklung und bei der Planung intensiver mit denen beschäftigen muss, die vor Ort sind und die in manchem christlichem Verständnis auch die eigentliche Kirche sind. Nämlich den Menschen, die in der Gemeinde wohnen.

Das hängt mit der Entwicklung der eigenen Tugenden sehr eng zusammen. Zwar kann man für sich selbst Tugenden definieren und diese dann entwickeln – man kann diese Tugenden aber dann am Bedürfnis der Gemeinde vor Ort vorbei entwickeln und sich dann wundern, warum Angebote nicht angenommen werden. Gerade auch weil Kirche ja den Anspruch hat für den Menschen da zu sein sollten sich Ziele und Tugenden an den lokalen Gegebenheiten der Gemeinde orientieren. Die Frage nach den eigenen Tugenden, dafür was man leisten kann mit den Mitteln und was man gegebenenfalls auch dann sein lassen muss sollte anhand der Gegebenheiten der Gemeinde vor Ort entwickelt werden – wenn sich kein Mitarbeiter für den Bibelgesprächskreis findet, dann ist das zwar schade, aber vielleicht besteht tatsächlich auch kein richtiger Bedarf danach. Und die Fähigkeiten der Mitarbeiter sind vielleicht in einem anderem Team besser aufgehoben. Dafür gibts aber keine Patentlösung. Wäre ja auch zu einfach. Doch nach diesem Schlenker zurück wieder zum Thema. Der Frage: „Wofür steht die Gemeinde eigentlich?“

Den Markenkern entwickeln heißt für die Zukunft gerüstet sein

So blöd das auch klingt: Menschen wollen Orientierung. Sie wollen genau wissen wofür etwas steht. Das vereinfacht unser Leben enorm. Wenn eine Gemeinde daher besonderen Wert auf die Kirchenmusik legt, dann wird sie vermutlich als kompetent für diesen Bereich eher wahrgenommen als für die Arbeit mit Trauernden. Wenn eine Gemeinde andererseits ein Hospiz betreut, dann werden Menschen sicherlich eher die Gemeinde damit assoziieren als mit Kirchenmusik. Wir als Menschen sind halt so gestrickt. Wir lieben es wenn die Realität vereinfacht wird. Wissenschaftlich übrigens bewiesen durch das Paradoxität-der-Wahl-Prinzip.  Wenn daher jemand uns ALLES anbietet, dann sind wir dermaßen verwirrt, dass uns eine Entscheidung schwerfallen würde. Sicherlich gibt es Kerntugenden, die die Gemeinden haben und die auch nicht aufgegeben werden können. Aber was spricht dagegen sich bei diesen Kerntugenden auf die zu besinnen, die die Gemeinde nun wirklich gut kann?

Höchst ketzerischer Gedanke, nicht? Das klingt als müsste die Gemeinde dann die Bereiche abstoßen, die nicht rentabel sind und zack sind wir wieder beim Denken in Konzernform. Das möchte ich aber damit gar nicht sagen. Es wäre furchtbar, wenn Gemeinden auf einmal die Altenpflege einstellen nur weil sie der Meinung sind, das machen die Privaten besser. Natürlich ist das damit nicht gemeint – ebensowenig kann ich bei einer Kulturinstitution nicht fordern, dass die Opernschlager wie „Aida“ aus dem Programm genommen werden und jetzt nur noch Bergs „Lulu“ gezeigt wird. Aber wenn wir beim Vergleich bleiben: Das Schauspielhaus Dortmund steht seit dem Intendantenwechsel halt für eine gewisse Richtung. In Düsseldorf gibt es eine hervorragende Tanz-Abteilung. Das heißt ja nicht, dass in Dortmund nicht auch Theater für Jugendliche gespielt wird. Das heißt auch nicht, dass in Düsseldorf die Deutsche Oper am Rhein aufgehört hätte zu existieren. (Okay, Düsseldorf-Duisburg, fairerweise gesagt. Ist ja ein Verbund.) Aber innerhalb der Bereiche und Aufgaben, die diese öffentlichen Häuser leisten haben sie sich ein Profil, einen Markenkern geschaffen. Sie stehen für etwas. Und sorgen damit für Orientierung. Möchte ich eher traditionelles Theater sehen, werde ich mit Sicherheit nicht in „Das Goldene Zeitalter“ in Dortmund gehen oder in „Häuptling Abendwind“ – eine Punk-Operette.

Mit Talenten wuchern – aber sicher das

Dies aber, so werden konservative Denker einwenden, ist dann doch gerade das, was Kirche nicht sein möchte. Man kann sich als Kirche doch nicht die Freiheit nehmen Gemeindemitglieder zu verprellen. Das geht doch nicht. Man muss doch für Alle da sein. Man kann doch nicht einfach ausschließen!
Mit Verlaub: Ja, Kirche ist ein Haus der offenen Türen und wir üben uns manchmal in Geduld mit den Ansprüchen und Gegebenheiten, die an die Kirche herangetragen wird. Aber um es noch einmal zu betonen: Es geht um die Besinnung auf das, was man als Gemeinde tun kann und was man besonders gut tun kann. Die Vernachlässigung von Gebieten, die eine Gemeinde nicht so gut kann steht gar nicht zur Debatte ebenso wenig die Veräußerung der christlichen Tugenden. Es geht um die Gaben und Tugenden, die in der Gemeinde vorhanden sind und darum, wie man sie am Besten nutzt.:“Sind sie alle Apostel? Sind sie alle Propheten? Sind sie alle Lehrer? Sind sie alle Wundertäter?“ Nein, meint der Korintherbrief. Müssen sie auch gar nicht sein. Sondern jeder sollte seine Gaben zum Besten nutzen. Zwar ist hier die Rede von den Gemeindemitgliedern, man kann das aber auch ohne Weiteres auf die Gemeinde selbst übertragen. Aber man kann ja nur wissen womit man wuchern möchte – falls jemand mal nachlesen möchte, es gibt da so ein Gleichnis, bei dem jemand seine Talente vergräbt – wenn man seine Tugenden und seine Talente kennt.

Daher: Die Frage nach dem was eine Gemeinde ausmacht und die Frage nach einem Leitbild oder Gemeindeverständnis ist unabdingbar. Denn nur wenn man weiß was einen ausmacht und was man als Gemeinde kann und in welchen Gebieten man gut ist, nur dann kann man diese besonderen Talente auch wirklich für sich nutzbar machen. So ketzerisch die Frage nach dem Markenkern und der Gedanke der Gemeinde als Marke auch ist – er hilft bei der Orientierung und bei der Planung. „Das Klima in der gastfreundlichen Gemeinde wird vom Verständnis der eigenen Identität beeinflusst.“ Wenn solch ein Satz in einem Leitbild steht und wenn die Gemeinde die Kernkompetenz Gastfreundschaft hat – dann ist das Verpflichtung, auch Verbindlichkeit. Ja, das schreckt dann bisweilen ab, weil die Rolle der Gemeindemitglieder auf einmal neu definiert ist. Andererseits ist das auch hilfreich, weil jetzt jeder genau weiß wofür die Gemeinde steht und was einen erwartet wenn man zu Besuch im Gottesdienst ist oder wenn man am Gemeindeleben teilhaben möchte. Genauso wie der Gottesdienstablauf im Gesangbuch hilft, den Gottesdienst besser verfolgen zu können wenn man nicht ständig in der Gemeinde da ist. Denken wir mal drüber nach.

10428652_909696752374293_5401521222185380255_nChristian Spließ, Social Media Manager, machte schon Social Media als es noch Web 2.0 hieß. Seit 2004 beobachtet er die aktuellen Entwicklungen und hilft mit Rat und Tat, wenn es darum geht Inhalte kompetentgenau an die Zielgruppe zu vermitteln.

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