„Bist Du 50.000€ wert?“ – ZDF-TV-Show entlarvt unser moralinsaures Verhalten

Wonach beurteilen wir Menschen auf den ersten Blick? Welche Kriterien verändern unser erstes Urteil? Wonach bewerten wir Sympathie, Interesse, welche Aussagen belohnen oder bestrafen wir? Ein Sozialexperiment bei ZDFneo zeigte, wie eine Jury in sechs Runden entschied, welcher Kandidat „50.000 Euro wert“ war – und wie nach und nach einer nach dem anderen entfernt wurde – nach kurzen Video-Selbsteinschätzungs-Sequenzen und einer Szene, die mit versteckter Kamera gedreht wurde. Leider hatte die erste Folge der TV-Show nur 140.000 Zuschauer. Für mich war das Experiment spannend, weil ich mich als 24/7 „Jurymitglied“ im Social Web ertappt fühlte: Auch ich habe mich daran gewöhnt, im Minutentakt Menschen einzustufen, zu beurteilen, auswählen und abzuwerten – alles so schön bunt hier!

bag-2029642_640 (1)„Du siehst aus wie ein Muttersöhnchen, der schon alles hat – Du brauchst kein weiteres Geld mehr“ – zack, schon nach wenigen Sekunden, in denen ein Kandidat Vorname, Alter und Wohnort nennen konnte, ist das erste Urteil gesprochen. Haltung, Tonalität und Kleidung reichen aus, um ein menschliches Gegenüber gnadenlos in eine Schublade zu stecken. Was er mit den 50.000 Euro gemacht hätte? Die Hochzeitsreise finanziert und das Geld fürs Eigenheim zurückgelegt. Erleichterung bei der Jury: Wir haben das richtige Urteil gefällt, das sind ja ganz normale Standard-Wünsche, langweilig, da nehmen wir doch lieber jemand Anderes.

„Du hast nicht protestiert, als ein TV-Moderator sich in Deiner Gegenwart abfällig über eine übergewichtige Mitarbeiterin geäußert hat“ – zack, raus mit dem Kandidaten, der in den Vorrunden gezeigt hat, dass er als Heimkind und Ex-Krimineller kein leichtes Leben hatte. Er erklärt nach dem Rauswurf, dass er im Leben gelernt hat, sich in Gruppen anzupassen, um nicht unterzugehen. Er hatte nicht protestiert, weil er sich nicht unbeliebt machen wollte in dieser Studio-Umgebung. Pech.

Gewonnen hat dann der übergewichtige, zurückhaltende kurdische 23-jährige Migrant, der Physik studiert und schon als Lehrer arbeitet. Der mehrmals bedauert, dass er Probleme damit hat, Gesprächspartner auf Augenhöhe zu finden, und der darum eher zurückgezogen lebt mit seiner Freundin und seinem Hund. Dicht auf den Fersen war ihm die junge Polizei-Anwärterin, die Skateboard fährt und in ihrer Freizeit als DJane elektronische Musik auflegt und sich einen Treffpunkt für all ihre Freunde wünscht.

Die 24/7 Jury im Social Web

Durch Social Media ist die Welt extrem zusammengerückt. Wenn ich bedenke, mit wie vielen Menschen ich tagtäglich bei Facebook, Twitter und über andere Kanäle mit Menschen konfrontiert werde, lässt sich das wohl nur vergleichen mit Berufen, bei denen im Minutentakt neue Kunden oder Antragsteller auftauchen. Doch mit dem Unterschied, dass ich meist keine sachliche Verbindung mit den vielen Freunden, Followern, Fans und Kontakten habe. Ich scrolle, sehe, beurteile – „Die Guten ins Kröpfchen, die Langweiligen ins Aufmerksamkeits-Nirwana, die Ärgernisse in die Battle (oder in den Müll)“.

In Sekundenschnelle fälle ich meine Urteile – wie in einem riesigen Menschen-Supermarkt, in dem ich mich zwischen Aussagen und Profilen entscheide wie zwischen Marmeladen-Sorten. Die Freunde, die ich auch im Offline-Leben treffe, beurteile ich natürlich weitaus freundlicher als die reinen Online-Kontakte. Je häufiger ich im haptischen Leben mit Einzelnen zusammentreffe, desto mehr Verständnis zeige ich für ihre privaten und geschäftlichen Botschaften.

Das Web-Leben hat wohl alle verändert, die sich dort aufhalten. News, Hintergrundinfos, Unterhaltsames, Provozierendes, Beunruhigendes, Privates, Unerhörtes, Unglaubliches, Verständliches, Herzerweichendes – ständig strömen Botschaften auf uns ein, die unsere private Meinung beeinflussen wie diese Jury in „Bist Du 50.000 € wert?“. Daumen rauf, Daumen runter, genehmigt, durchgefallen. Wie sagte ein Jurymitglied in der TV-Show so entlarvend, als es in der Endrunde um alles ging für die letzten zwei Kandidaten: „Was ist Deine Vision im Leben – begeistere mich!“

Ja, liebes Web – begeistere mich! Lege mit Deinen Äußerungen eine Schablone über mich, die mich perfekt spiegelt! Zeige mir, dass Du es wert bist, meiner Moral und meinem Wertesystem zu entsprechen – begeistere mich! Gib mir die Droge nach der mir verlangt. Zeig Narziss sein perfektes Spiegelbild! Begeistere mich!

Muss es noch mehr Folgen dieser Show geben?

Ich denke, diese erste Folge reicht völlig, um gespiegelt zu bekommen, wie allmachtssüchtig wir Menschen sind. Nach der ersten Runde machte sich die moslemische Studenten der Sozialwissenschaften noch Gedanken darüber, ob sie zu schnell wertend war – doch nach und nach fielen alle Bedenken. Dankenswerterweise hat das ZDF die komplette Show bei YouTube eingestellt – 90 Minuten, die ich nicht so schnell vergessen werde. Was mich tröstet ist, dass es nur um 50.000 Euro ging – nicht um eine lebensrettende OP oder um ein Todesurteil. Doch für mich persönlich muss ich einen Weg finden, mit meiner inneren-Moral-Klebrigkeit fertig zu werden. Ich will raus aus dieser 24/7 Jury – echt und ehrlich…

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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