Was passiert, wenn wir Arme verachten und ihrem Schicksal überlassen?

Sind Menschen, die sich nicht selbst versorgen (abgesehen von denen, die Anspruch auf Rente bzw. Pension oder Kapitalerträge haben), in irgendeiner Form verachtenswert? Sind sie Schmarotzer? Betrüger? Arbeitsscheue? Jammerige Opfer? Unfähig und somit selbst schuld? Von Gott (oder dem Kosmos) ausgesondert und darum genau da, wo sie hingehören – zum Abschaum? Wenn ich mir die institutionalisierte Armut im neoliberalen Großbritannien anschaue, frage ich mich, wie lange es noch in Deutschland dauert, bis wir auch hier Millionen Hungernde und Obdachlose haben.

Die Straßen in Deutschlands Metropolen quellen schon heute über voller Bettler und Flaschensammler – doch die Mehrheit der Wohnungslosen sind auch in Deutschland Frauen, Alte, Mütter und Kinder. Sie sind unsichtbar und passen nicht ins Bild der Vorurteile, die unser Gewissen beruhigt: Süchtig, selbst verschuldet krank, betrügerisch, arbeitsscheu, nutzlos, kriminell.

Was passiert, wenn das Wasser im Topf sich weiter erhitzt?

Wie lange erhitzt sich das Wasser im Kochtopf für den Frosch, bis es anfängt zu kochen? Und was ist dann? Bringen wir so lange alle Armen um, bis wir Profiteure unter uns sind? Oder erzeugt ein gesellschaftliches System, das solche ethischen Grundüberzeugungen wie „Fördern und Fordern“ vertritt, immer neue Unterschichten, sie rechtlos unterhalb des Menschenwürdigen von Tag zu Tag überleben? „Die Untüchtigen werden geschlachtet – die Welt wird tüchtig?“

Was eine Gesellschaft zusammenhält

Jedes gesellschaftliche System gibt sich seine eigenen Regeln. Nach Niklas Luhmann sind diese Regeln selbst erzeugt und agieren anhand ihrer Prinzipien mit anderen Systemen. Sowohl das System „Mensch“ als auch das System „Gruppe“ muss damit fertig werden, dass es ständig anderen Systemen gegenübertritt, die nicht durchschaubar sind in ihren Regeln, Optionen und Erwartungen. Darum suchen wir stets nach Vereinfachungen, die uns Sicherheit vermitteln.

Neoliberale Regeln des gesellschaftlichen Systems

In den letzten Jahren und Jahrzehnten setzt sich immer mehr die spirituelle Ideologie durch, dass das Individuum Gestalter seines Schicksals ist. „Denke Dich reich und glücklich“ klingt ja auch verführerisch! „Du bist Gestalter Deines eigenen Schicksals“ impliziert, dass Menschen in Unglück, Schmerz und Armut ihr Schicksal selbst verursacht haben. Man muss sie nicht einmal verurteilen – sie haben es einfach genau so gewollt nicht wahr? Selbst schuld!

Was wollen wir? Gerechtigkeit? Barmherzigkeit? Krieg?

Ein Gesellschaftssystem, das sich für den moralischen Grundsatz der profitären Bewertung entscheidet, erscheint auf den ersten Blick sehr vernünftig. Wer nicht zum Profit des Systems beiträgt (weil er/sie nicht will oder kann) ist wie ein fauler Apfel im Obstkorb. Muss also entfernt werden aus dem Obstkorb. Wohin auch immer…

Doch sind wir in unserem menschlichen Moralkodex tatsächlich keinen Schritt weiter gekommen seit der Anfänge der industriellen Revolution? Bilden wir uns nur ein, wir wären eine soziale Marktwirtschaft, so lange wir uns persönlich auf der Seite der Profiteure fühlen? Meinen wir allen Ernstes, wir selbst wären so unangreifbar (weil individuell so wertvoll), dass wir ignorant auf das Elend blicken können, das mit „Hartz IV“ beginnt? Meinen wir wirklich, dass Obdachlosigkeit und Hunger und Kälte nicht sein müssten, wenn man den Gang zum Jobcenter findet?

Menschlichkeit erscheint uns teuer – nicht finanzierbar. „Wir können nicht Jedem helfen“ ist weniger eine schulterzuckende Erkenntnis der Wohlwollenden als eine Begründung für die Vermeidung von Präzedenzfällen, die Katastrophen nach sich ziehen können:  „Wenn ich den kleinen Finger gebe, wird mich all das Bedürftige komplett verschlingen„. Wie sagte Bertolt Brecht so schön in der Dreigroschenoper „Ein guter Mensch – wer wär’s nicht gern? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“.

Ist Barmherzigkeit teuer?

Die Prämisse, dass Barmherzigkeit teuer ist, beruht auf dem Menschenbild, dass der Bedürftige in irgendeiner Form charakterliche Fehler hat. Also er ist wahlweise Schmarotzer, Betrüger, arbeitsscheu, gierig, egoistisch, jammeriges Opfer, unfähig, von Gott aussortiert (krank, behindert, depressiv…) und darum genau da, wo er hingehört – in der Gosse.

Würde Barmherzigkeit auf der Prämisse beruhen, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sähe alles plötzlich ganz anders aus! Hätten wir Vertrauen in die Armen, Gehandicapten, Alleinerziehenden, Sensiblen, Süchtigen, Übriggebliebenen, könnten wir mit ihnen auf Augenhöhe verhandeln und eine Lösung finden, die für beide Seiten das bestmögliche Ergebnis bringt!

Jeder Mensch ist wertvoll für die Gesellschaft, auch wenn er vom Hals ab gelähmt ist – auch wenn er durch psychische und traumatisierende Ursachen handlungsunfähig erscheint. Der Leistungs-Betrüger ist zum Beispiel tüchtig, wenn er schwarz arbeitet und so effizient wie möglich den Staat ausnutzt. Da kann man doch was draus machen, wenn man glaubt, dass jeder Mensch vom Kern her das Gute will.

Kann uns so ein Perspektivwechsel in den Ruin treiben?

Stellen wir uns vor, beim Jobcenter verhandeln Leistungsvermittler und Leistungsempfänger auf Augenhöhe darüber, was der Einzelne für das Wohlergehen des Systems tun kann: Vom Flyer verteilen oder Straße säubern bis zur Nachhilfe, Handwerksleistung oder Altenpflege ist alles denkbar. Ja, das kann Arbeitsplätze vernichten und dazu führen, dass die Tariflöhne weiter sinken – doch auch dafür gibt es eine Lösung – wenn denn nur dieser Perspektivwechsel im Kopf stattfindet!

Migranten können so viele Berufe bei uns ausüben, für die wir hier schwer Geeignete finden. Menschen mit Depressionen können in beschützten Räumen ihre künstlerische Ausdrucksform finden und gemeinsam wichtige Projekte stemmen (ja, auch wenn sie nicht immer funktionieren durch ihr Handicap). Misstrauische können Kurse geben darin, wie man sich vor Ausbeutung schützt und aus der „Opferrolle“ in eine Gestalter-Position kommt. Menschen aus anderen Ländern können Deutschunterricht geben und den Nachwuchs begleiten in der Schule. Süchtige können sich in Selbsthilfegruppen Alltag beibringen: Kochen, haushalten, Selbstbewusstsein tanken.

Jeder Mensch ist wertvoll

Das Einzige, was unser System braucht, ist der moralische Imperativ „Jeder Mensch ist wertvoll“. Eine winzige kleine Änderung im Gehirn. So leicht vollzogen, so leicht umzusetzen, ohne dass was wehtut. Wenn die Fallmanager im Jobcenter diese grundlegende Denkweise (Weiterentwicklung des Kantschen Kategorischen Imperativs „Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem Anderen zu“) in sich integrieren, können sie weiterhin tun, was sie zu tun haben – aber ohne diese Verurteilung des Charakters der ihnen Anvertrauten!

Respekt vor den Betrügern, Arbeitsscheuen, Gelähmten, Verzweifelten, Unfähigen… und schon webt sich in unsere Gesellschaft ein neuer güldener Faden ein, der uns retten kann vor wirtschaftlichen Umbrüchen und Krisen. Wenn jeder Mensch in dem erkannt wird, was er Wertvolles beitragen kann, ist das der Schlüssel zum Sinn des Lebens. Wir brauchen nichts abgeben von unseren Privilegien – wir brauchen nur eins: Respekt.

Armut in Großbritannien (32 Minuten)

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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2 thoughts on “Was passiert, wenn wir Arme verachten und ihrem Schicksal überlassen?

  • Reply Anonymous 7. Januar 2020 at 20:29

    Liebe Eva,

    Sie sprechen mir aus der Seele. Diese Situation, nicht nur der Altersarmut, die in den nächsten Jahren noch rasant zunehmen wird, ist hausgemachte Politik. Schon vor 20 Jahren wurden 50jährige als unnützer Balast aus dem Arbeitsleben verbannt. Dadurch fehlten sehr viele Fachkräfte, die durch jüngere ersetzt wurden. Es kam in vielen Fällen zum Chaos, was aber wegdiskutiert wurde. Dann kam das Schlimmste, was dem Arbeitsmarkt noch mehr geschadet hat. Hartz IV.
    Zusammenlegung der sozial gebeutelten mit den Arbeitssuchenden. Alle in einen Topf. Und damit der Chance auf Integration in den Arbeitsmarkt beraubt. Das ist deutsche Politik. Nichts hören, nichts sehen, aber dumm sprechen. Auf der anderen Seite lassen sich die Deutschen das aber alles mit sich machen. Keiner geht auf die Straße und kämpft dagegen an.
    Zur Zeit erleben wir das nächste Desaster der deutschen Wirtschaft. E-Mobilität. Die Emissionen steigen ins unermeßliche, nicht auf der Straße, sondern dahinter und daneben. Dort wo wir Menschen wohnen und leben. Aber das sieht kein Politiker. Umweltschutz muß sein, aber nicht auf biegen und brechen, sondern mit Verstand und Vernunft.
    Hier sind wir alle gefordert. Alle Menschen mit ins Boot zu nehmen, denn ein Jeder hat Fähigkeiten, die zum Allgemeinwohl eingesetzt werden können. Wir müssen diese Menschen nicht nur fordern, sondern auch fördern. Dadurch erhalten diese Menschen ein unabhängiges Einkommen und können dies in die Wirtschaft wieder einbringen Dann haben wir Erfolg.

    GVLG und ein tolles und gesundes 2020 wünscht
    Reinhard Fischbach

    • Reply Eva Ihnenfeldt 14. Januar 2020 at 11:07

      Lieber Reinhard,

      oh wie gut ich mich an dieses katastrophale Jahr 2004 erinnere, als die SPD und die GRÜNEN durchpeitschten, dass es keine Arbeitslosenhilfe mehr gab für Arbeitssuchende, die länger als 12 Monate keinen Job fanden. Wie viele Familien wurden dadurch auseinandergerissen, dass sie über Nacht zu „Bedarfsgemeinschaften“ erklärt wurden und der arbeitende Ehepartner oder Lebenspartner komplett für seinen arbeitslosen Partner/In verantwortlich wurde – inklusive der Beitragszahlungen für die Krankenversicherung! (wenn man nicht verheiratet war bzw. eine private Krankenversicherung hatte). Dann diese Begleitideologie der SPD Führung Clement und Schröder und Co: „Wer wirklich arbeiten will, findet auch was“. Und die Förderung der Zeitarbeitsindustrie, die viele Rechte von Arbeitnehmer aushebelte. Werke wie OPEL entließen viele ihrer Stammbelegschaft und boten ihnen großzügig an, für sehr viel geringeren Lohn und ohne nachhaltige Rechte wieder als Zeitarbeiter anzufangen und das Gleiche zu tun wie zuvor als langjähriger Opel-Arbeiter. Oh wie habe ich die SPD und die GRÜNEN für ihr Tun verachtet. Wie viele Menschen wurden in ihrem Willen und ihrer Würde gebrochen für diese brutale Vorgehensweise. Naja, zumindest muss die SPD die Quittung tragen für ihre Politik – die GRÜNEN leider nicht, da ihr Klientel nicht zu denen gehört, die sozial die Verlierer sind. Danke für den Kommentar. Hoffentlich lesen eigene ihn…. Und hoffentlich ist zumindest Altersarmut bald kein Thema mehr. Ich wünsche mir eine Grundrente von 1.000 Euro für jeden. So wie es in Nachbarländern von uns Standard ist wie in den Niederlanden.

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