Jede Zeit hat ihre Sucht: Wie verändert man sich bei Facebook-Entzug?

1.769 Studenten einer Universität in Texas verzichteten für eine Studie 2017 eine Woche lang auf Facebook (hier bei t3n). Die Forscher legten dabei besonderes Augenmerk darauf, wie sich der Verzicht auf Nachrichten auswirkte. Tatsächlich hob sich die Stimmung der Probanden. Depressive Gefühle sanken. Auf alternative Quellen für Nachrichten wie TV, Radio, Zeitung griff man kaum zurück. Stattdessen nutzte man die Zeit anders und lebte gesünder: Weniger Fastfood, weniger Spontankäufe, weniger Einsamkeit, weniger Zeitverschwendung. Doch als die Woche herum war, kehrten die Studenten wieder direkt zu Facebook zurück. All diese Verhaltensweisen weisen auf Sucht hin. Sind also immer mehr Menschen zu digital Süchtigen geworden?

Bin ich süchtig?

Ich schätze, dass ich täglich rund vier Stunden mit meinem Smartphone verbringe. Morgens vor dem Aufstehen kurz Facebook checken, im Bad einen tagespolitischen Podcast hören, während der Arbeit die Pausen nutzen, um WhatsApp, Mails und Messenger zu lesen und zu beantworten. Nach dem Unterricht am späten Nachmittag geht es weiter: Podcasts, Messages, Facebook, Streaming am Abend… lineares Fernsehen findet kaum noch statt.

Als Social-Media-süchtig würde ich mich nicht bezeichnen, eher als süchtiger „Feind der Stille“. Mir geht es weniger um das Sammeln von Likes und Anerkennung für meine Posts, als darum, mich mit der „Bedröhnung meines Geistes“ zu beschäftigen. So wie verrückte Kraftsportler jede freie Minute nutzen, um ihren Körper zu stählen, nutze ich jede freie Minute, um mich zu füttern mit Medienangeboten und digitalen Gesprächen. Ich habe dabei eine ganz bestimmte Auswahl – und je länger ich das so praktiziere, desto wählerischer und ungeduldiger werde ich dabei.

Wie nutze ich meine „Sucht-Mittel“?

Bilder interessieren mich kaum. Instagram bleibt mir unerklärlich, da ich nicht der Typ bin, der visuell angefixt werden kann. Stattdessen sind es Worte, die mich fesseln und die ich gierig aufsauge. Wie schön ist es, im Auto zu sitzen, eine längere Fahrt vor der Brust zu haben und dabei einen spannenden Podcast zu hören! Ob informativ, bewegend, erkenntnisreich, lustig… Ich suche ständig nach neuen Podcasts, die mir NOCH mehr geben. Ich liebe es, wenn Hörgenuss mich in Bewegung bringt. Wenn ich das Gefühl habe, nach dem Genuss ein bisschen anders geworden zu sein als vor dem Hören – dann bin ich befriedigt – für eine kleine Weile…

Bei Facebook (Twitter ist mein Kanal, mit dem ich ausschließlich tagesaktuelle Fach-News aus der digitalen Marketingwelt weiterleite) unterhalte ich mich gern. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass es den Menschen, denen ich mich mich verbunden fühle, gut geht. Ich schlendere virtuell über meinen Facebook-Marktplatz, schaue mir die Schaufenster an (z.B. lustige Videos bei Facebook-Watch) oder beobachte meine vielen vielen Bekannten (durch meine Business-Kontakte, Schüler und Studenten sind es über Zweitausend. Das finde ich wunderwunderschön).

Schlendern über den Facebook-Marktplatz

Geht es allen anscheinend gut, bin ich zufrieden. Hat jemand Kummer, versuche ich mit einem Kommentar etwas Aufbauendes beizutragen. Manchmal gelingt es mir, durch einen Post einen zugewandten Diskurs auf den Weg zu bringen. Vor Allem politische Themen führen dazu, dass wir uns über die Kommentare austauschen und verschiedene Perspektiven und Ansichten teilen. Ich liebe es, weil man im Gegensatz zu persönlichen Gruppengesprächen viel mehr Zeit hat, ausgewogen einen Kommentar zu formulieren bzw. zu beantworten

Da meine Facebook-Freunde ein reifes Kommunikationsverhalten zeigen (wer sich nicht freundlich und wertschätzend in der Community verhält, wird eben entfreundet), lerne ich häufig dazu und erweitere mein Weltbild. Dafür bin ich sehr dankbar, denn konstruktive Kritik ist mein Elixier, um mich weiter zu entwickeln.

Ich bin nicht der Typ für Rührseliges und Bemitleidenswertes, dafür bin ich wohl zu pragmatisch. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ könnte ein Spruch von mir sein. Die vielen Küchenweisheits-Sprüche bei Facebook öden mich an. Ich mag Content, der zum Nachdenken oder zum Lachen bringt, ich mag Provokatives und Werteorientiertes, ich mag alles, was an die Schwingungen eines revolutionären Aufstandes der Schwachen erinnert. Bin eben Kind von Nationalsozialismus-Geschädigten – das sitzt.

Wäre ich lieber ein digital unsüchtiger Analoger?

Auf gar keinen Fall wäre ich lieber jemand, der rein analog lebt und in der Freizeit nur liest, sich mit Menschen trifft und reist. Wie gruselig ist die Vorstellung, meine Zeit zu verschwenden mit Partys, gesellschaftlichen Verpflichtungen, Krimis und Erlebnis-Tourismus! Ich habe keine Minute Lebenszeit zu verschwenden in meinem Alter, und mir ist es wichtig, aus jedem Moment das Beste herauszuziehen. So ist Schreiben für mich unendlich kostbar als Reflektionswerkzeug. Und mein Beruf ist mir so heilig, dass ich regelrecht giere nach neuen Informationen und Hintergründen zu meinen Themen und Fächern.

Ich kenne natürlich viele ältere Menschen, die sich den digitalen sozialen Medien verweigern und ihr Smartphone nur für WhatsApp nutzen. Doch ich spüre bei ihnen so etwas wie das Kleben an vergangene Zeiten. So als würden sie nach und nach immer weiter zurückfallen in Tradition und Vergangenheitssentimentalität. Zwar mehr auf „links“-intellektuelle Weise als bei der Pegida-Fraktion, aber doch etwas ähnlich.

Die Jugend von heute verdummt, Bildung verkümmert, Bücher sind besser als digitales Lesen… Viele Wertevorstellungen aus früheren Zeiten werden als Schablone gelegt über das, was gerade diesen kompletten Planeten verändert. Alles wird auf das Digitale geschoben, anstatt auf politische Entscheidungen. Anstatt den digitalen Kosmos zu nutzen, um Kinder zu souveränen Wissensmanagern auszubilden, trauert man Zeiten mit Tafel und Kreide nach – das ist doch das Denken von Maschinenstürmern!

Dann bin ich eben süchtig!

OK, dann bin ich eben süchtig nach dem digitalen Planeten. Dann bin ich eben süchtig danach, genau das an Input zu erhalten, was mich im Moment am meisten befriedigt und mich am vollkommensten erfüllt. Ich empfinde es als Riesenluxus, mich kaum noch mit Fremdbestimmten zufrieden geben zu müssen wie früher, als ich auf lineares TV angewiesen war und um eine bestimmte Uhrzeit vor dem Apparat zu sitzen hatte – und nicht unterbrechen konnte, wann mir gerade danach war. Und mal ehrlich: Snd Krimis hochwertiger als Fach-Podcasts? Ist es eine intellektuelle Meisterleistung, einen Roman nach dem anderen zu verschlingen, nur weil er auf Papier gedruckt ist? Wohl kaum…

Jede Zeit hat ihre Sucht. In den siebziger Jahren waren es bie „bewusstseinserweiternden“ Drogen, die schlimme Folgen hatten, dann kam die Konsumsucht, heute ist es die „Stille durchbrechen“ Sucht. Bloß keine Langeweile, bloß kein Müßiggang, bloß nichts, was der Selbstoptimierung entgegensteht… Ich habe mich einverstanden erklärt, ich mag diese Sucht, ich mag diese Zeit. Sie bereitet etwas vor, was wir in zwanzig Jahren als gewaltigen Menschheitsfortschritt erkennen. Ich liebe diesen digitalen Planenten aus menschlichem Geist. Möchte zu keiner anderen Zeit geboren sein…

 

 

 

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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