Die erste Regel des Überwachungskapitalismus: Nicht darüber sprechen

Bei Zeit.de habe ich diesen Tipp der Journalistin Natasha Lomas vom Onlinemagazin Techcrunch gefunden: „Die erste Regel des Überwachungskapitalismus lautet: Sprich nicht über Überwachungskapitalismus“. Und es funktioniert! Nur wenn mal ein Kommunikationsunfall passiert wie jüngst bei Netflix, wo sich die Social Media Redakteure in einem Tweet lustig gemacht haben über insgesamt 53 von 100 Millionen Netflix-Kunden, die eine weihnachtlich romantische Netflix-Eigenproduktion mit 18 Folgen in nur 18 Tagen vollständig konsumiert haben, flammt kurz Empörung auf.

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Und in China freuen sich viele Bürger sogar darüber, dass der Staat ein digitales Bonuspunkte-System aufbaut, welches jeden Chinesen verhaltensmäßig bewertet – und belohnt und bestraft. Sind wir Menschen wirklich bereit, den Überwachungskapitalismus zu akzeptieren? Vermittelt uns das Wissen von menschlicher Transparenz so etwas wie Sicherheit und Geborgenheit?

Netflix und sein „Big-Brother-Shitstorm“

Am 11. Dezember tweetete das Social Media Team von Netflix folgendes höhnische Urteil: „An die 53 Leute, die A Christmas Prince jeden Tag geschaut haben in den letzten 18 Tagen: Wer hat Euch verletzt?“. Man war anscheinend amüsiert über die Vorstellung, dass (alles Frauen?) eine Handvoll der insgesamt 100 Millionen zahlenden Kunden sich jeden Tag eine Folge der Weihnachts-Romanze angeschaut haben.

Alles Looser? Alles Zuschauer, die auf den Ritter auf dem weißen Roß warten, anstatt ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen? Alles Menschen, die schon mal nicht für Führungsposten geeignet sind, da sie im Grunde ihres Herzens nur geheiratet werden wollen und sich versorgt wissen? Sind das spannende Informationen für Arbeitgeber, die den Charakter von Menschen in ihre Recruiting-Entscheidungen einbeziehen? Und dann natürlich die wichtige Frage: Was kann man diesen 53 Groschenroman Fans noch alles verkaufen?

 


Die Reaktionen der Twitteraner waren zustimmend, belustigt, erschrocken, empört… Viele hunderttausend Retweets, Antworten, Likes und private Nachrichten prasselten auf die Social Media Redakteure nieder. OK, dass diese Internet-Giganten vor Allem davon leben, dass sie Nutzerdaten sammeln, auswerten, verkaufen und in Produkte und Angebote umwandeln, ist langsam bekannt – aber muss man sich das schon so brutal offen unter die Nase reiben lassen? „Haha, Manfred Meier, guckst jetzt schon zum zweiten Mal sämtliche Staffeln von The Walking Dead – scheinst ja ganz schön unterdrückte Aggressionen zu haben was?“ „Mensch Sarah Friedmann, immer schon um 17 Uhr die erste Comedy-Serie an Werktagen – Dein Studium scheint ja nicht gerade Dein Hauptinteresse zu sein – lieber schön einsam chillen was?“

Lässt sich der Überwachungskapitalismus noch zurückdrehen?

Verhindern oder zurückschrauben können wir wohl die Spirale des Überwachungskapitalismus nicht mehr. Selbst wenn Gesetzgeber so tapfer wären und versuchen würden, in ihren Nationen oder Staatengemeinschaften Menschen-Tracking rigoros zu verbieten, wäre es ein schwieriges Unterfangen, da digitale Daten nur mit größter Anstrengung an Landesgrenzen gestoppt werden können. Abgesehen davon sind auch Staaten Kunden der Big-Data-Firmen und versuchen, Law and Order über präventive Informationen zu optimieren.

Wirtschaftlich würde ein Land, das auf Datenintelligenz verzichtet, wohl bald in der Steinzeit angekommen sein. Also frage ich mich lieber, was dieses Tracking (das dank Smartphones und Gesichtserkennung ja auch zunehmend im Offline-Leben perfektioniert wird) wohl mit uns macht? Werden wir brav und gesichtlos?

Kann man sich an Big Data gewöhnen?

In China kann man gut beobachten, wie die Reaktionen auf die totale Überwachung sind. Vor Kurzem hörte ich eine westliche Journalistin, die in China stationiert ist, in einem Podcast darüber sprechen: Sie hat sich angewöhnt, sich für relevante Gespräche mit Zettel und Stift im Wald mit Interviewpartnern zu treffen. Für relevante Kommunikationen nutzt sie verschlüsselte Technologien und Uralt-Handys. In einem Land, das traditionell Persönlichkeitsrechte nicht kennt, hat sie sich damit abgefunden, dass in ihrer Abwesenheit häufiger die Wohnung durchsucht wird.

Mich haben ihre Aussagen sehr beruhigt – auch wenn ich die Dystopie eines 1984-Planeten schockierend finde. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen immer Wege finden, sich kreative Auswege zu schaffen, wenn sie in ihrer Freiheit beschnitten werden. Ich habe größten Respekt vor der Macht des menschlichen Geistes und irgendwie freue ich mich sogar darauf, wenn er in diesem absurden Überwachungskapitalismus mal wieder zeigen kann, wozu er in der Lage ist.

Werden wir dank personeller Ansprache zu Pawlowschen, sabbernden Konsum-Hunden?

Auch die massenhaften Versuche der Verbrauchsgüter-Hersteller und -Händler, uns dank personalisierter Werbung zu sabbernden Konsumenten zu erniedrigen, sehe ich mit Gelassenheit. Stopfe ein verwöhntes Kind jahrelang mit Schokolade, Love-Brands und Geschenken voll, lies ihm jeden Wunsch von den Augen ab und erfülle die geheimsten „Erleben wollen“ Gelüste, damit bloß keine Langeweile aufkommt – was wirst Du erreichen? Ein zivilisationskrankes Weichei – oder einen Rebellen, der sich kraftvoll befreit aus der Abhängigkeit der großen Verführer?

Tatsächlich werden die personalisierten Werbebotschaften immer perfekter auf unser Verhalten zugeschnitten. Gerade im Bereich Medienkonsum ist das gut zu verfolgen. Netflix ändert je nach Charakter, emotionaler Stimmung und Sehnsüchten der Nutzer sogar die Vorschaubilder für Serien und Filme! Jeder soll mit dem größtmöglichen Appetit erreicht werden. Wer Liebesfilme mag, bekommt einen Szenenausschnitt mit Liebe zu sehen – wer Action mag, sieht als Vorschaubild des selben Films eine Action-Szene. Dank Künstlicher Intelligenz (Algorithmen aufgrund digitaler Mustererkennung) nicht einmal mehr teuer.
futurezone: Wie bei Netflix die maßgeschneiderten Vorschläge zustande kommen

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Leben wir bald in einem Computerspiel?

Wir Menschen fangen an, uns daran zu gewöhnen, dass die Welt sich benimmt wie die Karikatur von Über-Eltern. Wenn Amazon uns unpassende Produkte vorschlägt, sind wir empört! „Mensch Amazon, ich höre seit Monaten nur noch kitschige Popmusik und flirte per WhatsApp mit meinem neuen Traumpartner, kannst Du nicht mal was für Verliebte empfehlen als diese ganzen Business-Bücher?!“ „Ich studiere doch nun schon seit Monaten Fashion-Blogs und Instagram-Marken-Influencer  – kannst Du nicht mal langsam begreifen, wie mein Modegeschmack ist?“

Bald werden wir sicher sogar im Offline-Leben feststellen, dass die Realität für verschiedene Menschen verschieden aussehen kann. Über unsere Handys werden wir zu bestimmten Angeboten geführt – oder uns werden bestimmte Routen und Ziele vorgeschlagen. Im Auto werden wir sanft darauf hingewiesen, wenn es Zeit ist für eine Pause, und zu Hause wird unsere Internet-of-Things Umgebung uns wie Heinzelmännchen verwöhnen. Werden wir uns immer mehr fühlen wie in einem Computerspiel? Und wird dieses Gefühl dazu führen, dass wir andere Menschen als lästig und störend empfinden, weil sie so fehlerhaft und unzuverlässig sind?

Mag kommen was will – ich freu mich drauf

Ich bin so gespannt darauf, wie der Mensch mit all diesen Herausforderungen umgehen wird! Natürlich werden es nur wenige sein, die nicht begeistert auf Konsum anspringen und die andere Träume haben als ein perfektes Leben. Doch das ist ja gerade das Schöne! Immer wenn es nur wenige sind, die sich sträuben gegen den Status Quo, entsteht Change. Immer wenn sich die Rebellen zusammenfinden, da sie Hunger haben nach Freiheit und Selbstbestimmung, entstehen Kreativität und disruptive Erneuerung. Ich weiß natürlich nicht, ob ich selbst die Beharrlichkeit und Statur habe, zu diesen Wenigen zu gehören, doch das wird sich finden.

Dass der Aufbruch aus dem Überwachungskapitalismus passiert, ist sicher. Wir werden als Menschheit einen wichtigen Schritt weiterkommen in unserer Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung und sinngeprägter Erfüllung in Freiheit. Also hadert nicht damit, wenn Eure Kinder sich wie fremdbestimmte Konsum-Süchtige benehmen. Dann müssen sie eben da durch – irgendwann findet jede Sucht ihr natürliches Ende – und dann tun sich neue Wege auf und machen lieb, stark und weise.

Inspiriert von Meedia.de: Der Big-Brother-Tweet von Netflix

 

 

 

 

 

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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