Wasser statt Vine: Twitter und die Kurzvideos

Für Künstler mag Vine ein Verlust sein, doch für den Normalnutzer eher weniger. Denn ein 6-Sekunden-Video muss gut durchdacht sein, damit es funktioniert. Und weniger Schnappschuss als eher konstruiertes Meisterwerk.

Vermutlich ist Vine deswegen auch nicht gerade populär geworden. Die Irritation war sowieso zum Start groß: Sechs – Sekunden! Was sollte man denn mit 6 Sekunden wirklich schon anfangen können? Instagram mit seinen 15 Sekunden war ja schon spärlich, aber 6? Eher zögerlich war dann auch der Anfang, es dauerte eine Weile bis das Potential von Vine wirklich erkannt wurde. Wie meistens bringt gerade die Beschränkung das Kreative hervor.

Vine half auf jeden Fall die Nähe zu dem Klassiker des Internets: Dem animierten GIF. Beide Formate leben davon, dass sie in einer kurzen Zeitspanne ablaufen, dass sie zudem in unendlicher Schleife funktionieren und dass sie mehr oder weniger auf allen Plattformen funktionieren. Als Twitter vor einiger Zeit verkündete, man könne jetzt auch endlich animierte GIFs von wenigen Sekunden für die Plattform nutzen nahm man das in der Community eher belustigend zur Kenntnis – statt der vielen anderen Vorschläge zur besseren Nutzung der Plattform, es fehlt immer noch eine Möglichkeit der Rechtschreibkorrektur von Tweets nach dem Absenden etwa, konzentrierte sich Twitter auf Nebensächlichkeiten wie animierte GIFs. Aber Twitter rückte damit nur den Focus von den unattraktiveren Diensten hin zur Nutzerorientierung: Animierte GIFs werden immer noch geteilt und sie funktionieren vielleicht auch deswegen noch, weil sie kaum Bandbreite bei der mobilen Nutzung verbrauchen.

Der Glanz fehlte

Nun ist die Herstellung von animierten GIFs heutzutage für den Nutzer weniger anstrengend als noch vor Jahren: Photoshop oder GIMP wird man zwar noch für die Feinheiten brauchen, aber da selbst YouTube es erlaubt aus vorhandenem Material GIFs zu erstellen werden wir wohl auch noch in etlichen Jahren nicht zu befürchten brauchen, dass GIFs aussterben. Allerdings gab es schon eine Unmenge von GIFs bevor Vine startete und obwohl sich eine lebhafte Community entwickelte wird man bei Tumblr und Co. eher weniger Vines als eher GIFs finden.

Vielleicht, weil ein Vine durchdachter sein muss. Die App bot zwar die Möglichkeiten Videomaterial für später zu archivieren und auch rudimentäre Korrekturfunktionen waren vorhanden – Einzelsequenzen des gefilmten Materials etwa ließen sich bequem per Fingerwisch verschieben und löschen, so dass eine missglückte Passage neu gefilmt und dann in das vorhandene Material eingefügt werden konnte. Das aber war Frickelarbeit. Wer diese Funktion überhaupt nutze war ja schon etwas mehr und tiefer in die Materie vorgedrungen – der Großteil der Twitternutzer scheint die Herausforderung in 6 Sekunden wirklich etwas zu sagen aber nie angenommen zu haben. Und wenn man versucht, einen Eindruck aus dem Urlaub als Schnappschuss-Video zu filmen, so muss man sich selbst das für 6 Sekunden gut überlegen. Einfach die App anschalten und losfilmen ging nicht.

Abgesehen mal davon, dass Twitter dann selbst mit einer Videofunktion ankam, was verwirrte: Wieso machte Twitter jetzt noch eine Funktion zum Videoerstellen auf? Konkurrenz im eigenen Haus? Warum ließ Twitter es zu, dass man mit der anderen App viel längere Video erstellen konnte? Und während Instagram bei der Videofunktion punkten konnte, die mit 15 Sekunden nicht unbedingt viel mehr Platz bot, geschah es, dass Vine allmählich nach und nach in die Nische verschwand. Was sich vielleicht damit erklären lässt, dass die Option bei Instagram zusätzlich zum vorhandenen Funktionsangebot dazu kam. Für Instagram war das eine Erweiterung. Vine konzentrierte sich ausschließlich auf nur eine Funktion und es gab einen Nachteil: Wer bei Instagram ist, der hat sein soziales Netzwerk schon und pflegt das auch. Wer bei Vine startete, musste sich dieses Netzwerk erneut neu erschaffen. Zwar hatte Vine nach einigen Monaten schon einen Unmenge von Nutzern, Instagram war aber eher schon in den Nutzungsgewohnheiten drin – und mit der Videofunktion erreichte Instagram auch Nutzer, die vorher überhaupt nicht auf die Idee gekommen wären überhaupt etwas mit Videos zu machen. Diese waren dann auch nicht bei Vine – nutzten dann aber die Videofunktion von Instagram. Weil sie halt da war und wenn man schon ein Photo machte, konnte man ja auch rasch mal eben diese Videofunktion ausprobieren und überlegen, was man damit anstellen konnte. Vines Glanz verflog also – und Instagram hatte bald mit neuen Filtern und Optionen auch die Nase technisch weiter vorne. Und Stars, die lange Zeit nur bei Vine waren, kosteten dann ihre Videos auch auf YouTube und Instagram. Womit Vine weiter an Einzigartigkeit und Zugpferden verlor.

Vine geht, Streaming bleibt

Allerdings sollte man auch im Auge behalten, dass der Trend von Kurzvideos hin zum Streaming gegangen ist. Eine Entwicklung, die mit Meerkat – RIP – und Periscope angestoßen wurde. Facebook Live kam ja dann später und lange Zeit hätte Twitter auch hier eine App-Schlacht verlieren können, denn Meerkat lag lange Zeit vorne. Mittlerweile könnte man allerdings auch um Periscope bangen, denn Facebook-Live-Videos sind einfach längerfristiger. Periscope-Videos verschwinden 24 Stunden nach Beendigung der Aufzeichnung, sind also für Archiv- und Dokumentations-Zwecke eher nicht verwendbar. Allerdings hat Twitter Premium-Funktionen für die professionellen Verwender des Dienstes bereitgestellt und nachdem man Vine jetzt abgestoßen hat – und damit auch die laufenden Kosten für den Dienst – wäre es natürlich unsinnig, sich nicht auf das Streamen von Inhalten zu konzentrieren.

Und ein Vorteil dabei schält sich heraus, wenn man sich als Beispiel mal den laufenden Wahlkampf in den USA per Streaming angeschaut hat, denn wenn es um Liveberichterstattung geht, dann hat Twitter immer noch die Nase vorn. Wohlgemerkt: Das sind keine Ereignisse von den Nutzern, sondern das sind Übertragungen, die Twitter als Firma macht. Das ist alles sehr bequem und weniger irritierend als durchs Bild flirrende Herzchen bei Facebook-Live-Videos… Ein weiterer Punkt, warum Twitter wohl dem Thema Video treu bleibt ist die Tatsache, dass Twitter demnächst bei Apple TV vorhanden sein wird. Mit einer App für Videoinhalte sowohl als auch den Live-Reaktionen auf übertragene Debatten. Dabei wird Twitter das schon vorhandene Potential bei den Verträgen mit seinen Partnern nutzen – Live-Sport-Events kommen ja unter anderem von der NFL – als auch ausgewählte Inhalte von Periscope den Nutzern verfügbar machen. Und: Man braucht keinen Twitter-Account, um diese App zu nutzen. Insofern: Video bleibt für Twitter definitiv ein Pferd, auf das die Firma setzt.

Der selbstständige Journalist und Social Media Redakteur Christian Spließ begleitet Unternehmen und Organisationen bei der erfolgreichen Umsetzung von Social Media Kampagnen. Christian Spließ ist einer der Social Influencer in NRW - vor allem über Twitter und Facebook.

www.homo-narraticus.de

One thought on “Wasser statt Vine: Twitter und die Kurzvideos

  • Reply Ute 30. Oktober 2016 at 01:27

    Das hast Du ausgezeichnet analysiert. Es ist sehr traurig, dass diese wunderbare kreative und künstlerische Spielwiese abgeschaltet werden soll. Es lebe der Kommerz! Ironischer Funfact ist, dass sich derzeit auf Vine alle verabschieden und auf Instagram – also dem Facebookprodukt – verabreden. Aber Instagram ist halt nicht Vine, die Vine-Community ist eine sehr lebendige und besondere und eine ganz andere, als in den anderen sozialen Netzwerken. Auch deshalb habe ich es sehr geschätzt. Der Spirit wird sich verlieren.
    Man setzt auf dokumentarisches streamen, ist ja ok, aber warum muss deshalb die kreative Nische abgewürgt werden?

    Es gibt 5000 Arten Twitter zu nutzen, aber die Entscheider verstehen scheinbar ihr eigenes Goldstück von Produkt nicht. Die Nutzer wünschen sich eine bessere Funktionalität, z. B. Tweets editieren zu können und was bekomen sie? Herzchen statt Sterne! o.O Die mobile Twitter-App ist eine Katastrophe in der Usability, (komplizierter Zugriff auf Listen, diese ohne Lesezeichenfunktion, kein Zähler bei neuen Tweets, keine Möglichkeit Spalten oder Tabs einzurichten, etc.) Drittanbieter Apps wurden die API Schnittstellen gekappt. Ebenso wie die API Schnittstellen zu den Sharingbuttons.
    Ich verstehe es nicht.

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