Eine Mutter von Zwillingen

„Stell Dich nicht so an!“, schrie sie, „Wo ist Dein Problem?“

Eine Mutter von Zwillingen stand vor ihr, verwirrt, eingeschüchtert – Katharina war es egal. Katharina hatte eine harte Schicht hinter sich als Bahnbegleiterin. Sie wollte schlafen, einfach schlafen. Was hatte diese Mutter nur für ein Problem? OK, der Aufzug war mal wieder kaputt, aber das war doch nichts Besonderes! Und so standen sie da im Treppenhaus. Die beiden Kleinkinder starrten Katharina ängstlich an – gleich würden sie anfangen zu heulen.

„Wo ist Dein Problem?“ wiederholte Katharina etwas leiser. Sie wollte die Kinder nicht provozieren. Sollten sie zu schreien anfangen, wäre ihre Selbstbeherrschung endgültig zum Teufel. Schon in 10 Stunden musste sie wieder zur Schicht. Personalmangel… Und sie brauchte dringend Schlaf.

„Wir müssen zum Arzt“ erklärte die Mutter hilflos. „Ich weiß nicht, wie ich die vier Stockwerke nach unten kommen soll. Da dachte ich, ich setze die Mädchen erst einmal ab und bringe zuerst den Kinderwagen Stockwerk für Stockwerk bis ins Erdgeschoss. Dann hole ich die Kinder. Doch die bekamen Angst so allein im Treppenhaus. Darum habe ich sie ebenfalls ein Stockwerk tiefer getragen. Sie sind schon zwei Jahre alt und zusammen ganz schön schwer“.

„Und muss das so einen Krach machen?“  schimpfte Katharina. „Kannst Du den Kinderwagen nicht tragen, anstatt ihn Stufe für Stufe herunterpoltern zu lassen?“

„Ich schaff das einfach nicht“, flüsterte die junge Frau und setzte sich auf eine Treppenstufe. Die beiden Mädchen klammerten sich Hilfe suchend an ihre erschöpfte Mama.

Noch vor zwei Jahren hätte Katharina in einer solchen Situation gern geholfen, hätte Mut zugesprochen, getröstet, sich um die Kinder gekümmert, bis der Zwillingswagen heile unten angekommen war.

Aber heute war heute, und Katharina war leer. Leer wie eine alte zusammengedrückte Milchtüte. Sie hatte keine Kraft mehr für Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit. Sie wollte einfach nur schlafen. Und sie war wütend, weil ihr nicht einmal das vergönnt war. „Könnt Ihr mich nicht alle einfach in Ruhe lassen!“, schrie sie. „Ich brauche Ruhe!“

Ein Stock über ihnen öffnete sich eine Wohnungstür. „Ruhe, verdammt noch mal!“, brüllte eine Männerstimme und schlug die Tür wieder zu. Auch die kleinen Mädchen schrien nun, klammerten sich an ihre Mama, die ihre Kinder an sich drückte und still weinte. Sie musste doch zum Arzt!

‚Indizien‘, dachte Katharina mit einem letzten Funken Klarheit. Alles Indizien, alles Anzeichen, von denen sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Entwicklung, einen Sachverhalt, eine Situation oder einen Zustand schließen lässt. Indizien…

Was sind das für Zeiten, in denen der Mensch keine Kraft mehr hat, seinen Mitmenschen zu helfen? Was sind das für Zeiten, in denen jeder nur noch versucht, irgendwie zu überleben?

Nein, so wollte Katharina nicht sein. Was hatte sie für eine Wahl? Den Job hinwerfen? Arbeitslos werden und nicht einmal aus eigener Kraft die Miete zahlen können? Was sollte sie nur tun?

„Sei ehrlich zu Dir selbst“ erklang eine feine Stimme in ihrem Inneren. „Trau Dich – sei ehrlich zu Dir selbst“.

Katharina war plötzlich, als wäre sie blind gewesen und jemand hätte ihr den Schleier von den Augen gezogen. Sie schaute zum ersten Mal die kleine Schar auf der Treppe an. Sie sahen so niedlich aus! Die still weinende Mama und ihre Mädchen, deren Lippen bebten in ihrem Bemühen, trotz aller Angst still zu bleiben.

‚Scheiß auf den Schlaf‘, dachte sie und musste grinsen. „Kommt rein“. Katharina hielt ihre Tür weit auf. „Wir kriegen das schon hin“.

Von diesem Moment an war alles anders. Katharina ging nie wieder zu ihrer verhassten Arbeit. Sie holte sich nicht einmal einen Krankenschein – sie ging einfach nicht mehr hin.

Mit der Zwillingsmutter schloss sie Freundschaft an dem Tag im Treppenhaus, als die beiden Frauen und die beiden kleinen Mädchen mit vereinten Kräften das kaum Mögliche bewältigten – und Katharina mit zum Kinderarzt gegangen war. Sie war im Wartezimmer eingeschlafen – trotz des Lärms – und als sie erwachte, war sie ein neuer Mensch.

„Es ist, wie es ist“ war ihr erster Satz, laut und deutlich, und die wartenden Erwachsenen und Kinder schauten sie erstaunt an. Aus irgendeinem Grund wurde der Satz weitergetragen. Von Mund zu Mund, von Straße zu Straße, von Ort zu Ort. Menschen warfen ihre Arbeit fort, organisierten Schwarzmärkte, druckten selbst erfundenes Geld und organisierten sich in kleinen und großen Gemeinschaften. Durch diesen kleinen Satz „Es ist, wie es ist“ waren die Menschen unregierbar geworden. Friedlich, gutmütig, gelassen, sicher.

Sogar die Politiker und Machthaber ließen sich anstecken von diesem merkwürdigen „Es ist, wie es ist“. Auch sie wurden herzlich willkommen geheißen in den Dörfern, die sich bildeten. Es war vorbei.

Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt, 14. März 2024

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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