Das Mediengericht: Im Tod vergriffen

Sterben ist kein tolles Thema. Lassen Sie es uns trotzdem nicht gleich beerdigen. Denn die medialen Tücken des Todes sind eine lebhafte Diskussion wert.

dasmediengerichtTotgesagte leben länger. Das zeigte jüngst der angebliche Tod von Helmut Kohl. „Die Welt“ hatte kurzzeitig das Ableben des eigentlich lebendigen Altkanzlers online verkündet. Schuld war offiziell ein Mitarbeiter: Der hatte wohl in der neuen Version des Redaktionssystems falsch geklickt – und die falsche Nachricht in „die Welt“ gesetzt, statt sie nur intern zu speichern. Eine Nachrichtenagentur griff prompt den falschen Tod auf und befeuerte seine Medienkarriere.

Der stellvertretende „Welt“-Chefredakteur beeilte sich nach Bekanntwerden, „in eigener Sache“ die Sache geradezurücken, und verwies entschuldigend auch darauf, dass der Kohl-Tod nur für „102 Sekunden“ auf der „Welt“-Seite verfügbar gewesen sei. Schon nach dieser kurzen Zeit habe man die Falschmeldung entfernt, was die Weiterverbreitung der Aussage natürlich nicht umgehend stoppte – denn bekanntermaßen ist es schwierig, einmal veröffentlichte Inhalte im Internet einzufangen bzw. vermeintlich Tote korrigierend wieder lebendig zu machen.

Branchenkenner wunderten sich sehr über den Sachverhalt. Nicht etwa darüber, dass ein Mitarbeiter falsch geklickt hatte. Auch nicht darüber, dass in einem Redaktionssystem generell der Nachruf auf einen Lebenden existieren kann. Denn das ist durchaus üblich, um zeitnah auf den Verlust eines prominenten Menschen zu reagieren. Der praktische Nutzen: Wer bereits einen auf Todesnähe-Verdacht komplett produzierten Beitrag in der morbiden Schublade hat, muss nicht erst im konkreten Todesfall spontan anfangen, umfangreich Informationen zu recherchieren und Material zu sammeln, sondern ergänzt nur noch Todeszeitpunkt, -ursache und -alter. Das Prozedere gilt übrigens nicht nur für Altbundeskanzler: Auch Queen Elizabeth musste erst vor einigen Wochen durch eine BBC-Panne erfahren, dass sie angeblich tot sei.

Doch zurück zu Kohl: Abgesehen vom unwahren Ableben war das Merkwürdige an seinem „Welt“-Tod, dass es sich offenbar gar nicht um einen komplexen Nachruf auf ihn handelte, sondern schlicht um eine kurze Meldung, die ein Journalist ebenso gut erst im Todesfall binnen weniger Minuten hätte schreiben können. Da legen es die Indizien nahe, dass man – eventuell zu Testzwecken der neuen Software – unbedacht eine fiktive Meldung eingebucht hatte nach dem Motto: Wie wäre es wohl, wenn Kohl …?

Wie auch immer: Grundsätzlich lässt sich natürlich die „journalistische Ökonomie“ als Motiv für vorproduzierte mediale Nachrufe hinterfragen, vor allem aus der Pietäts-Perspektive. Schließlich ist das Leben eines Menschen allen Ernstes erst am Ende dieses Lebens realistisch und umfänglich zu würdigen. Und ist ein sogenannter Nachruf, der womöglich zumindest in Grundzügen schon vor Jahren verfasst wurde, in Wahrheit nicht ein (nur mit Details belebter) unwürdiger „Vor-Nachruf“, der den seriösen Nachruf in Verruf bringt?

Letztlich richtet sich eine zentrale Frage an das Publikum – an Sie als Zuschauer, Zuhörer und Nutzer: Möchten Sie wirklich schon in der Stunde des Todes das ganze Leben des Verstorbenen anschauen, nachlesen, durchklicken? Oder lieber nach einer Eilmeldung lieber geduldig warten, bis Journalisten einen „echten“ Nachruf, mit authentischen Gedanken und Gefühlen, aus aktuellem Blickwinkel präsentieren?

Vielleicht überlegen Sie sich – auch wenn Sie weder Kanzler noch Königin sind oder waren – einfach mal Folgendes: Würden Sie wollen, dass Ihr Nachbar schon jetzt in seinem Notizbuch aufgeschrieben hat, mit welchen Sätzen er Ihren Tod kommentieren wird? Wohl kaum.

Ein Name des Volkes:
Michael Milewski

PS: Ein makabrer Medieneffekt kann auch entstehen, wenn Prominente zwar tatsächlich gestorben sind, die Nachricht von ihrem Tod aber in einem Werbeumfeld erscheint – wie Screenshots von „Spiegel Online“ im Fall des Politikers Philipp Mißfelder dokumentieren. Dem Videobeitrag über dessen Tod waren zum Teil äußerst unpassende Werbevideos vorgeschaltet.

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Das Mediengericht ist eine mehrgängig delikate, bisweilen beklagenswerte Angelegenheit: Manchen schmeckt nicht, was sie vorgesetzt bekommen, andere kochen sich sogar ihr eigenes Süppchen. Michael Milewski serviert Ihnen in seiner Kolumne anregende Kostproben aus der Medienküche, würzt kritisch nach – und lädt Sie genüsslich ein, beim Konsumieren unbefangen auch über den medialen Tellerrand hinauszuschauen.

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