Social Media: Bleibt die menschliche Güte auf der Strecke?

Ich engagiere mich gern auf Social Media: Videos zur Seenotrettung teilen – auch mal etwas in Minutenschnelle spenden -, aufbauende Sprüche posten, Petitionen unterzeichnen, Freunde mit ihren Erlebnissen liken und liebevoll kommentieren… unterhaltsam, federleicht und in wohltuender Distanz kann ich ein guter Mensch sein. Habe ich mein Quantum für eine bessere Welt bei Facebook und Co hinzugefügt, wende ich mich wieder ballastfrei meinen Interessen zu. Aus den Augen, aus dem Sinn. Was macht das mit meinem Charakter? Verändert sich dadurch meine Persönlichkeit?

Durch meinen wunderschönen Beruf in der Erwachsenenbildung habe ich Kontakt zu unzähligen Menschen in ganz Deutschland. Von der Hochschulabsolventin bis zur erfahrenen 50+ Führungskraft ist alles dabei, wir bilden stets sehr heterogene Communities. Häufig diskutieren wir das ethische Für und Wider von Social Media und der digitalen Kommunikation.

Die Einen schwärmen (wie ich) von der weltumspannenden Vereinigung aufgrund von Werten und Motiven. Alles ist möglich, und vieles wird auf den Weg gebracht. Die Anderen sind entsetzt von dieser FastFood-Kommunikation, bei der Beständigkeit und Verlässlichkeit keine Rolle zu spielen scheinen. Wo bleibt die menschliche Güte, wenn wir dem haptischen Leben entfliehen?

Wie war ich eigentlich früher?

Ich überlege, wie ich selbst wäre, wenn ich nicht vor mehr als zehn Jahren in die digitale Kommunikation eingestiegen wäre. Als ich jünger war und noch nicht selbstständig, hatte ich viel privaten Kontakt zu Menschen, die zu Besuch kamen oder die ich besuchte. Oder wir trafen uns irgendwo da draußen, redeten über Gott und die Welt und nahmen uns (manchmal seufzend) als Freunde hin, wie wir eben waren. Mussten wir ja!

Als ich dann 2004 den Weg in die finanzielle Selbstbestimmung wählte, veränderte sich mein Charakter grundlegend. Belangloses „Zeit-rum-bekommen“ erschien mir als Sünde wie der Königin in Alice im Wunderland: „Sie schlägt die Zeit tot! Sie schlägt die Zeit tot!“ Alles wurde auf den Prüfstand der Effizienz gestellt. Die Sorge vor finanziellem Absturz durchströmt seitdem wie eine Droge jede Zelle meiner Persönlichkeit.

Dann kam ab 2008 Social Media hinzu. Zunächst nur Xing, später Twitter, noch später Facebook. Im Moment schleicht sich Instagram hinzu. Social Media ist mein Kommunikations-Begleiter durch den Tag. Ich konsumiere Gefühle und spendiere Gefühle, fühle mich lächelnd mit denen verbunden, die mir im Newsstream eingespült werden – und vergesse sie ebenso schnell wieder, wenn ich weiterscrolle.

Mein Bedürfnis nach Nähe und Verbindung lebe ich aus, als hätte ich ein gut gefülltes Konto bei einer „Menschlichkeits-Bank“. Auf Knopfdruck hole ich mir die Emotionen ab, die ich früher beim nächtelangen Zusammensein bekam.

Nur dass die Begegnungen im Digitalen viel komfortabler sind. Keine Konflikte, keine Risiken, keine lästigen, öden oder gar bedrohlichen Konsequenzen – mein gut gefülltes „Menschlichkeits-Konto“ bewahrt mich vor den unangenehmen Seiten von Freundschaft, Nähe und Mitgefühl.

Wo bleibt die menschliche Güte?

Ich bin meinen Teilnehmern, die zu Recht auf diese herzlose Seite der Social Media Kommunikation hinweisen, sehr sehr dankbar. Auch wenn mein Beruf erfordert, dass ich mich täglich mit der Kultur der verschiedenen Netzwerke auseinandersetze, muss ich mich nicht darin suhlen wie eine Süchtige, die das drogenfreie Leben zu vermeiden sucht. Man kann ja auch ein Banker sein, ohne dem großen Geld hinterher zu jagen… 🙄

Will ich mich der menschlichen Güte zuwenden, brauche ich Zeit dafür. Ich brauche den Abschied von der Religion der Effizienz. Keine Ahnung, wie ich das hinbekommen soll…

Vor wenigen Tagen legte mir einer meiner Students (Kabbala-Experte mit sehr klugem Blick) ein kleines Schlüsselchen in die Hände, um mich aus meiner Strenge heraus auf Güte hinzuweisen. Falls also hier noch jemand unter der Effizienz-Sucht und unter Mangel an Güte leidet, ich finde dieses Lied wunderwunderschön (ok, zunächst fand ich es unerträglich kitschig 😳 ). Vielleicht ist ja noch nicht Hopfen und Malz verloren – ich werde weiter daran arbeiten…

Text: „Nicht müde werden – sondern im Wundern – leise wie einem Vogel – die Hand hinhalten“

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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