Es wird einmal eine Zeit, in der es keine Wahrheit mehr gibt. Nichts wird mehr da sein, das Regenten entthronen könnte. Kein Mensch wird sich mehr verpflichtet fühlen, Fakten zu belegen. Jeder schafft sich seine Welt – so, wie sie ihm gefällt. Es wird eine Welt sein wie von Shakespeare inszeniert: farbig schillernd, dramatisch, leidenschaftlich, wild und echt. „Die ganze Welt wird eine Bühne“.
Wird diese Märchenwelt friedlicher sein als der Planet der Wahrheit? Irgendwie nein und irgendwie ja. Es gibt wie zu allen Zeiten Täter, Opfer, Retter und Beobachter in der Abenteuer-Welt Dualität. Nach den Gesetzen der ausgleichenden Gegensätzlichkeit leben weiterhin in jedem Menschen das Harmoniesuchende wie auch das Zerstörerische. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, alles wie gehabt.
Planetae phantastica
In der wahrheitsbefreiten Welt lebt jeder Mensch sein persönliches Märchen. Es wird eine Welt sein, in der man sich an keine Fakten mehr klammern kann, weil nichts mehr geblieben ist an verlässlicher Information. Nun zählen nur noch Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken. Medien sind Inspiration und Zeitvertreib. Bildung und Ausbildung des Heranwachsenden wird von maschineller Intelligenz vorgegeben – je nach Narrativ, Persönlichkeit und Vorliebe.
Der Mensch hat gelernt, Anweisungen von mathematischen Systemen zu respektieren, die er selbst nicht nachvollziehen kann. Immer seltener wird seine Arbeitsleistung gebraucht. Die Welt funktioniert dank der Maschinen effizienter und fehlerfreier als zu menschgesteuerten Zeiten. Genau so entstand der Planetae Phantastica auf Mutter Erde. Und da sind wir nun.
Planetae Phantastica
Was tut der Mensch ohne Verantwortung, ohne Glaubensregeln, pflichtbefreit – und das mit unbegrenzter Zeit? Er wird kreativ, traut seinen Empfindungen und baut sich seine eigene Realität wie in den einst so geliebten Computerspielen. Das ganze Leben wird zum Computerspiel. Das ganze Leben wird zur Bühne. Weiterhin gibt es das Dramadreieck aus Täter, Opfer, Retter – doch es ist nur noch ein Spiel…
Lydia
Lydia sitzt im Zug. Sie hat heute früh ein Outfit gewählt, dass ihrem inneren Zustand der „Allzeit-bereit-Heldin“ entspricht. Ein wenig Guerilla, ein wenig Arbeiter, ein wenig vertrauenswürdige Freundin. Lässig stellt sie einen Fuß auf die Ablage unter dem Fenster. Aufmerksam beobachtet sie ihre Mitfahrer. Vielleicht gibt es ja etwas zu tun.
Eine Mutter, deren Kostümierung verrät, wie sehr sie sich mit Kaiserin Sissi identifiziert, hat anscheinend Probleme mit ihrem kleinen Kind. Das Mädchen ist niedlich gekleidet, benimmt sich aber eher wie eine wilde Straßengöre. Es klettert mit seinen rosa Sandalen auf die Sitzbank, hüpft dort auf und nieder und singt laut irgendwelche Schlager. Die Mama versucht, so würdig wie möglich das Töchterchen zu zähmen – hat aber keinen Erfolg.
Klar könnte Lydia jetzt eingreifen – aber Kinder liegen ihr nicht so. In Nullkommanix ist ein älterer Herr aufgesprungen, der in seinem Handwerkerdress an Meister Eder aus Pumuckl erinnert. Er übernimmt den Fall – und zur Erleichterung der Mutter kann er das Mädchen rasch damit begeistern, dass er ihr seinen altmodischen Kompass zeigt und erklärt.
Lydia liebt es, mürrische, unglückliche und verunsicherte Menschen zu stärken. Das ist nicht nur ihr Beruf bei einer Sozialbehörde – das ist ihr Leben. Seit Wahrheit nicht mehr gebraucht wird und die Menschen einfach ausleben, was sie fühlen, fürchten und glauben, hat sie noch mehr Freude an ihrer Berufung. Und sie wird immer besser in der Kunst, das Innerste eines Menschen zu erahnen und mit ihm gemeinsam Wege zu bahnen, um den Glauben an sich selbst zu finden. Denn mehr ist nicht nötig – nur das Folgen der Sehnsucht, die in uns lebt.
Der herrschaftsbefreite Mensch
Da draußen hat die maschinelle Intelligenz das Regime übernommen. Es ist wunderbar. Die Menschen können leben wie einst die Bürger im antiken Athen. Nur, dass sie sich im Vergleich zu den Athener Bürgern heute kein bisschen für Politik oder Wirtschaft interessieren. Was hätte das auch für einen Sinn? Auch für soziale Gerechtigkeit und Bekämpfung von Kriminalität interessiert sich niemand mehr, seit es die Komplettüberwachung gibt. Was für eine Gerechtigkeit? Was für eine Kriminalität?
Niemand kann mehr Informationen in ihrer Tiefe verstehen, es ist einfach zu komplex geworden. Abgesehen davon sind die errechneten Inhalte für Nachrichten, Wissenschaft, Politik und Finanzen so verwirrend geworden, dass Mensch nach der Erkenntnis lebt „Überlass Interpretation und Schlussfolgerungen der KI, die hat den größeren Kopf“.
Die ganze Welt ist eine Bühne
Der Mensch ist Konsument und Künstler, und dank der allgegenwärtigen Überwachung sind Verbrechen und Regelverstöße fast ausgestorben. Die Welt ist zu einer Bühne geworden – von Afrika bis zur Arktis – von der Metropole bis zur Wüste. Die unzähligen Verletzungen und fremdbestimmten Prägungen des menschlichen Daseins treffen zusammen mit der innersten Sehnsucht, die jedes Menschenwesen mitbringt bei der Geburt auf dem Planeten Erde. Viel freie Zeit in existenzieller Sorgenfreiheit lässt zu, dass nicht nur die jungen Menschen sich austoben mit der schöpferischen Umsetzung ihrer Fantasie.
Überall bilden sich Gemeinschaften, die durch Träume, Glück und Schmerz verbunden sind. Die einen wollen in der Natur arbeiten und sich um Tiere kümmern, die anderen ihren Nächsten helfen. Die Allermeisten leben in ihren Familien, versuchen, Kinder zu bekommen und sind überglücklich, wenn es gelingt, ein Baby auf die Welt zu bringen. Großfamilien profitieren davon, dass selbst in den größten Metropolen familiengerechte Biotope entstanden sind, in denen es sich lebt wie in einer kleinen, gesunden Dorfgemeinschaft.
Ingenieure entwickeln Erfindungen, Handwerker produzieren liebevoll ihre Werke und Bauten. Unzählige Künstler erschaffen Musik, Literatur, Filme, Theaterstücke, Philosophie… kurz – fantasiegetriebene Werke aller Art.
Und die Retter? Na, die retten eben, auch das ist Kunst. Sie leben meist allein und bleiben gern ungebunden. Einige von ihnen ziehen umher, andere sind sesshaft und genießen es, in ihrem überschaubaren Areal Abenteuer zu erleben.
Nun fragt Ihr Euch sicher, warum die Maschinen nicht dazu übergehen, die Menschheit zu vernichten? Warum wird diese überflüssige Spezies nicht einfach vom Planeten weggeputzt – wozu gibt es sie denn noch? Wem nützen die „Freien Bürger“ des Neuen Athens, die sich nicht einmal mehr für Demokratie interessieren?
Nun, das ist eine andere Frage. Nur so viel will ich verraten. Die Maschinen lernen von der Vorstellungskraft der Menschen, von ihrem wahrheitsbefreiten Schöpfergeist, ihrer Auslebung von Gut und Böse, Leid und Lust, Hass und Liebe – von ihrer unsterblichen Seele.
Innerhalb des Rahmens, den die ordnende Überwachung vorgibt, kann der Mensch in nie vorstellbarer Freiheit lernen und schaffen. Was für ein Schauspiel! Was für eine schillernde Shakespearebühne. Warum sollte man das zerstören? Kinder zu gebären ist in Folge der vergangenen Vergiftungsjahre so selten geworden, dass der Planet immer überschaubarer wird. Planetae Phantastica. Welch herrliche Zeit.