„Mach Dir keine Sorgen, ich bin ja da“. Nikita lächelt beruhigend. Ihr linkes Auge ist verunsichert. Seit der OP muss es sich mit einem Fremdkörper zurechtfinden, der ständig vor dem Sichtfeld herumwabbert. Nikita versucht, ihrem Auge Vertrauen zu geben in die eigenen Fähigkeiten, sich an die neuen Herausforderungen anzupassen. Nikita ist eine gute Mutter. Sie liebt sich sehr.
Nikita weiß, dass ihr Auge nichts begreifen kann von Wassertropfen unter einer künstlichen Linse, die langsam resorbiert werden. Doch sie weiß auch um die entspannende Wirkung von vernünftigen Erklärungen, egal, ob es sich um einen sprachfremden Menschen, ein Haustier, eine Pflanze oder einen Teil ihres Körpers handelt. Die gute Mutter erklärt die Welt – und die Wesen kuscheln sich ein in die beruhigenden Laute.
„Nikita, bist Du schlau?“ „Nein“ lacht Nikita. „Ich bin nur verliebt genug, so zu tun als ob. Je älter ich werde, desto mehr liebe ich jeden einzelnen Atemzug, den ich auf dem Planeten Erde ein- und ausatmen kann. Ich liebe das Krächzen der Krähen im Hinterhof. Ich liebe die wilden Jungens in der U-Bahn. Ich liebe die Sonne, den Regen, den Wind. Ich lebe! Was für ein Wunder, was für ein Geschenk.“
Nikita und ihr Verstand sind ein von Geburt an verbundenes Ehepaar. Vorbei sind die Zeiten, als sie stritten um Wahrheit, Urteil, Weg und Ziel. Heute gehen sie Hand in Hand friedlich und gelassen durch Zeit und Raum. Nikita ist die Mutter, das empfangende Prinzip. Ihr Verstand ist die männliche, schaffende Energie. Nikita atmet ein, ihr Verstand atmet aus. Atmet ein, atmet aus. Atmet ein, atmet aus.
Nikita weiß, dass die Tage ihres Lebens auf der Erde gezählt sind. Auch die aufregendste Reise hat irgendwann ein Ende. Sie freut sich auf daheim, auf die Ruhe, die Vollkommenheit, die Auflösung von „richtig“ und „falsch“, von Schuld und Sühne.
Ihr Herzchen und sie, sie genießen die Wehmut, die sich nun bei jedem Pumpen in das fleißige Blut mischt. Wenn die Blutkörperchen ohne Unterlass durch die Blutbahnen eilen und alles Lebendige ernähren, verbrauchte Stoffe entsorgen, ihr Bestes geben, erfüllt Nikita mütterlicher Stolz.
Was wird bleiben, wenn diese Kreuzfahrt auf dem Planeten Erde vorbei ist? Wird es Erinnerungen geben, Erkenntnisse, Gefühle, Bewertungen, Austausch mit anderen Seelen? Wird im Endeffekt nichts weiter bleiben als eine etwas veränderte Seelen-Struktur in einer unendlich großen kosmischen Gleichgültigkeit?
Was ist Gott?!
Egal, nun heißt es, nichts mehr verpassen von all dem, was Nikita umgibt. Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – sich jeden Augenblick vereinigen mit dem Außen.
„Aua“ meldet der untere Rücken. „Alles gut“ senden Nikita und ihr Verstand ihm zu. „Wir stehen ja schon auf. Danke für Deine Geduld, während wir diese kleine Geschichte aufgeschrieben haben. Und danke dafür, dass es Dich gibt, lieber Rücken. Du bist toll. Ich liebe Dich.“
Eva Ihnenfeldt am 7. September 2023