Es schleicht sich ein

Gerlinde ist oft allein. Dann geht sie ins Internet. Bei Google googlet sie, bei Facebook tauscht sie sich aus, bei Instagram vernetzt sie sich und bei YouTube schaut sie sich lehrreiche Videos an. Gerlinde liebt es, zu lernen. Die Minuten fliegen nur so dahin, wenn sie am Laptop sitzt, am Smartphone, am Tablet. Sie spürt in ihrer Gier nach Wissen, wie ihr Gehirn wächst und sich die neuronalen Netze weiter verästeln. Jede Information wird mit Quellenrecherchen auf Seriosität geprüft, mit thematisch ähnlichen Quellen verglichen und bewertet. Das Wichtigste archiviert sie, bearbeitet sie. Über kreative Prozesse macht sie sich das Gelernte zum Besitz.

Gerlinde beschränkt das „Da draußen“ auf das Notwendigste. Es ist so wohltuend, daheim zu sein, sicher und geborgen. Finanziell braucht sie nicht viel. Hauptsache, das Internet funktioniert. Die Bedürfnisse außerhalb ihrer digitalen Erlebnisräume sind minimal. Nahrung, Bewegung, frische Luft und Pflege für den Körper plus einer ausreichend ausgestatteten, heizbaren Wohnung – fertig. Einkaufen geht sie noch, und alle drei Monate zum Friseur.

ild von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay

Es schleicht sich ein

Gerlinde träumt viel. Früher war das nicht so, da hatte sie ja noch viele Erlebnisse in der anfassbaren Welt. Diese schienen intensives Träumen überflüssig gemacht zu haben. Sie hat viel darüber gelesen. Heute lebt sie ihr emotionales Leben des Nachts. Sie träumt ganze Romane, fantasievolle Welten, aufregende Beziehungen und gefährliche Abenteuer. Jeden Abend freut sie sich darauf, einzuschlafen. Manchmal gelingt es ihr, nach dem Erwachen Bruchstücke ihrer Träume in das Mikrofon ihres Smartphones zu sprechen.

Immer häufiger tauchen märchenhafte Gestalten auf in ihren Träumen. Es sind immer andere Persönlichkeiten, häufig inspiriert durch Bücher, Serien und Filme, die sie am Abend zuvor gesehen, gehört oder gelesen hat. Diese märchenhaften Wesen lehren sie Geheimnisse auf wunderbare Art. Sie lassen Gerlinde hinter die Vorhänge unserer Realität blicken, nutzen Geschichten und Symbole, um sie weiterzuführen.

Die Welt der digitalen Eremiten

Gerlinde wird nach und nach zur digitalen Nonne. Die Nächte mit ihren aufgedeckten Geheimnissen verfeinern ihre spirituellen Antennen. Ihr ganzes Leben wird zu einem einzigen Gebet. Im Internet findet sie Menschen, die eine ähnliche Entwicklung vollziehen. Meist sind es Frauen, die wie sie zunächst nach Wissen suchten – und durch ihre selbstgewählte Einsamkeit nach und nach zur spirituell erfüllenden Einsamkeit fanden.

Staunend stellen die digitalen Einsiedlerinnen fest, dass in ihrer spirituellen Entwicklung keine Religion, keine Weltanschauung und kein Heilsweg vorgegeben ist. Man sucht, man vergleicht, man wandelt das Erfahrene um – und man träumt. Man akzeptiert die unzähligen Wahrheiten, man versöhnt sich mit den eigenen, man lernt von Tag zu Tag noch besser, demütig und dankbar zu sein für jeden Atemzug auf diesem Planeten Erde. Man ist so voller Auswahl an Informationen, dass der eigene Anspruch steigt und steigt und steigt.

Da draußen geht das Leben weiter. Sie bemerken es kaum. So lange genügend Ressourcen vorhanden sind für die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse, sind sie glücklich mit ihren Forschungen und digitalen Vernetzungen.

Wer noch?

Da gibt es noch die digitalen Sportler, die ihr Bestes geben im Wettbewerb mit Gamern auf der ganzen Welt. Da gibt es die Kommunikatoren, die in digitalen Communitys ihre Aufgaben erfüllen. Es gibt die Creator, die das Netz mit Inhalten füllen. Es gibt die Künstler, die im digitalen Raum neue Kunst erschaffen – und es gibt die Trolle, die überall stören und verärgern. Auch diese Trolle sind wichtig, da sie Erlahmung und Langeweile entgegenwirken.

Klimawandel

Die Erde scheint immer blasser zu werden in der Überzeugung, dass es sie bald nicht mehr gibt. Die Menschen stellen sich um, meist unbewusst. Sie haben verstanden, dass sie auf einem Planeten leben, der seinem Tod entgegengeht. Und so bereiten sie instinktiv einen Evakuierungsplan vor, der sie hinweghebt aus dem Zwang der Biologie. Sie lernen, über ihren Geist zu leben und ihren Körper zu pflegen wie ein vertrautes Haustier. Sie begreifen, dass abseits der Familienclans jeder Mensch für sich allein verantwortlich ist. Sie lernen, damit zu leben. Es schleicht sich ein.

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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One thought on “Es schleicht sich ein

  • Reply Petra Dobbert 25. August 2023 at 11:57

    Liebe Eva, das ist eine sehr gute , aktuelle Geschichte zum Zeitgeist. Ich denke, dass sich viele Leute, besonders Frauen, in dieser Geschichte wiederfinden können. Das stimmt nachdenklich, und ist doch ein stiller Wegweise, welche Richtung nun eingeschlagen werden soll, kann, oder man sogar muss. Jeder in seiner eigenen Entscheidung…

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