Verloren im Meer der Zwiebelschalen-Wahrheiten – kann es digitale Kompetenz noch geben?

Putsch in der Türkei – oder vielleicht eine Inszenierung der Regierung? Islamistischer Terroranschlag in Nizza – oder vielleicht ein psychisch kranker Mann, der blind mit dem LKW durch die Menge rast? Objektive Berichterstattung in den Leitmedien – oder doch vielleicht PR für Netzwerkpartner und zahlende Anzeigenkunden? Man könnte verrückt werden anhand der Zwiebelschalen-Informationen, die uns hin- und her werfen zwischen Zustimmung und Ablehnung, Vertrauen und Enttäuschung, Emotion und Kälte. Während man früher die Wahl hatte zwischen eher linker und eher rechter Presse (damals gab es sogar noch üblicherweise zwei Regionalzeitungen im Wettbewerb!) ertrinken heute die Bürger in einer Masse an Medien, und verlieren den Überblick. Müssen wir nun alle Detektive werden, die investigativ jede einzelne Meldung so lange recherchieren und prüfen, bis wir uns einbilden, wir könnten zu einer durchdachten Meinung kommen?

Gestern sprach mich in der City ein junger Mann an, der für die Landtags-Piraten eine Umfrage durchführte: „Hätten Sie zwei, drei Minuten Zeit? Sind Sie für das Wahlrecht im Land ab 16? – Sind Sie für mehr Volksabstimmungen?“ „Was sind denn das für Fragen?“ antwortete ich ein wenig verzweifelt. „Ich soll mal eben in zwei Minuten solche wichtigen Themen abstimmen, ohne mich intensiv mit den Hintergründen beschäftigt zu haben? Was kommt als Nächstes? Ob ich für die Todesstrafe bin? Oder für die Ausweisung straffälliger Migranten? Das ist doch total unseriös!“ Der junge Mann entschuldigte sich gleich und stimmte mir zu. Er selbst arbeite für ein soziologisches Institut und hätte mit dem Inhalt dieser Umfrage nichts zu tun. „Ach so, Sie haben einen Job! Ach, schreiben Sie einfach bei jeder Frage als Antwort – Weiß ich nicht“.

Tatsächlich komme ich immer mehr zu dem Ergebnis, dass ich weiß, dass ich nichts weiß. Jeder Mensch hat seine eigenen Interessen, seine eigenen neuralgischen Punkte, seine Traumata, seine emotionalen Berührungspunkte. Der Eine liebt Klaus Kleber und glaubt diesem jedes Wort, die Andere vertraut Dunja Hayali und ist sicher, dass dieser Mund nie Unbedachtes sagen würde.

Ich selbst vermeide schon Fernsehnachrichten, da die Kombination aus Bewegtbild, Ton und Inhalt mich bei der Suche nach Ungereimtheiten überfordert. Da fühle ich mich am meisten manipuliert. Ich lese über meine RSS-Feeds die wichtigsten Leitmedien, einige Blogs – und bei wichtigen Ereignissen scrolle ich durch die Hashtags bei Twitter auf der Suche nach ungefilterten Direkt-Reportagen und Videos. Printzeitungen kommen gar nicht mehr in Frage, weil der Zeitaufwand so hoch wäre, dass sich die Gegenrecherche beim besten Willen nicht auch noch leisten könnte – schon allein deswegen nicht, weil ich von Offline zu Online keine direkte Verbindung habe.

Beispiel bei Cicero Online: Rief der Nizza-Attentäter wirklich „Allahu Akbar“? Wie sich eine Falschmeldeung durch die Medien frisst

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Ich habe in meinem Facebook-Freundeskreis viele Menschen, denen ich vertraue, weil ich sie persönlich kenne und weiß, dass sie ähnlich sind wie ich. Wenn diese Links zu Hintergründen posten, ist das meine wichtigste Hilfe bei meinem „investigativem Job“, da durch die Freundesliste bei Facebook nur das an mich herankommt, was ich ausgewählt habe. Da muss ich wenigstens nicht (wie bei Twitter) bei jedem einzelnen Post prüfen, von wem das stammt und welche Interessen da wieder hinters stecken.

Kein Wunder, wenn viele Menschen die Waffen strecken und sich einreden, dass sie voll und ganz ihrer höchstpersönlichen Medien-Glaubensgemeinschaft vertrauen können. Die Älteren bevorzugen dabei die Glaubensgemeinschaft von ZDF und ARD, die Enttäuschten lesen Kopp-Verlag und sehen sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt, viele entscheiden sich zwischen SPIEGEL (eher die ehemals „Linken“) und FOKUS (eher die ehemals „Konservativen“) – und dann gibt es noch die Masse der BILD-Leser und nicht zu vergessen die „Akademiker“ mit WELT, SZ, Handelsblatt und Frankfurter Allgemeine. Und die Traditionellen mit der Regionalzeitung im Abo.

Blogger und Netzaffine haben ihre Blogs wie Netzpolitik und NachDenkSeiten, und Podcast-Süchtige (wie ich) hören aufmerksam die journalistisch politische Medienkritik von Stefan Schulz und Tilo Jung beim Podcast „Aufwachen“. Und natürlich „Lage der Nation“. Für mich ist tatsächlich Audio das beste Format, da meine Ohren am sensibelsten auf Zwischentöne reagieren und sich nicht so leicht betrügen lassen wie meine Augen. Und beim Lesen habe ich eine solche Masse an Quellen und Linkverweise vor mir, dass ich sehr flüchtig bin und nur etwa ein Drittel der Wörter tatsächlich lese.

Fluch und Segen der Zwiebelschalen-Wahrheiten

Kurz und gut: Es ist nun mal so, die Zeit des Herrschaftswissens“ ist zu Ende und wird auch nicht wiederkommen. Auch wenn die Türkei für ein paar Stunden mehr oder weniger das Internet abschalten konnte – auf Dauer schafft das niemand, auch nicht China. Der weltweite Handel ist zu wichtig, als dass man den Preis für Kontrolle zahlen will. Und die Findigkeit der Netzgemeinde ist zu groß, als dass man wirksam Zensur ausüben könnte. Wie müssen mit den vielen Nachrichten und Behauptungen und gezielten Falschmeldungen leben.

Kein Wunder, dass diese Verunsicherung zu Gewalt und Extremismus führt, wer kann schon im Chaos leben, ohne sich nach einem „starken Führer“ zu sehnen, der Sicherheit und Schutz verspricht? Egal, ich habe mich einverstanden erklärt – ich lebe. Egal, wohin es führt, ich will diese Befreiung von Herrschaft und Seilschaften, ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen. Mein Tipp: Macht es Euch nicht zu leicht auf der Suche nach der Wahrheit. Kreuzt lieber an „Ich weiß es nicht“ als dass Ihr Euch zu schnell festlegt. So schnell verurteilen wir – so schnell bringen wir Leid mit diesen Urteilen über Unschuldige…

Bildquelle: Pixabay_WikiImages

 

 

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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