Wenn wir uns unterhalten, geht es oft um Bewertungen, Verurteilungen, Bitterkeit und Schuldzuweisung. Die Ex hat…, die Politik ist…, auf der Arbeit…., mein Nachbar…, meine Mutter… Als würden wir ständig Gift schlucken oder Gift ausspeien. Dem Bedürfnis nach Schuld- und Strafzuweisung liegt die traurige Tatsache zugrunde, dass wir uns selbst verurteilen. Heißt: Wollen wir raus aus dem Lynchjustiz-Hamsterrad, müssen wir rein in die bedingungslose Selbstliebe – und das nennt man Selbstfürsorge.
Selbstfürsorge: Grundsatz
Eine Mama versucht, ihr Baby glücklich zu machen. Wenn es schreit, nimmt sie es auf; wenn es Hunger hat, gibt sie ihm Nahrung; wenn Gefahr droht, schützt sie es. Das ist die erste Regel bei der Kunst der Selbstfürsorge: Sei Deine eigene Mama, liebe Dich wie ein süßes, kleines, hilfloses Baby.
Selbstfürsorge: Lerne Dich kennen
Was erzeugt in Dir negative Bewertungen? Was macht Dich ärgerlich, was erzeugt Gefühle von „Ungerechtigkeit“, wann wünschst Du jemandem, dass er oder sie leidet? Ja, es ist schwer, aus der Identifikation mit dem Ego herauszutreten und sich wie eine liebende Mama selbst zu beobachten. Doch Übung macht den Meister: Wenn Du Medien konsumierst, ist es am Leichtesten – kann sogar Spaß machen. Welcher Prominente macht Dich wütend? Welche Gruppierung (reich, arm, radikal, normal…) erzeugt in Dir Widerstand, vielleicht sogar Hass? Lege Dir etwas zum Schreiben hin beim Medienkonsum, beobachte Dich und schreibe Stichworte auf. So erhältst Du nach und nach ein Bild davon, was Du in Dir selbst ablehnst. Schuld und Scham sind nämlich die Ursachen, warum wir andere Menschen verurteilen. Je größer unsere Selbstverurteilung, desto härter unsere Verurteilung Anderer.
Selbstfürsorge: Gehe Gift aus dem Weg
Während Du staunend immer mehr Deine (Selbst-)Verurteilungen auflöst, solltest Du parallel dazu achtgeben, dass Dir Deine Umwelt kein neues Gift einspritzt. Ich selbst habe zwei Taktiken, um mich vor den Verurteilungen meiner Umgebung zu schützen:
1. Ich teile meinem Gesprächspartner bedauernd mit, dass mir negative Bewertungen tief ins Herz gehen und sogar meinen Schlaf und meine Träume beeinflussen können. Ich bitte ihn oder sie, in unserem Gespräch auf Sprach-Lynchjustiz zu verzichten und uns lieber möglichen Lösungen von Problemen zuzuwenden. Klappt super! Sogar im Park bei Fremden, die wütend auf die Politik oder die „Ausländer“ sind.
2. Ich gehe den Giftgefüllten aktiv aus dem Weg. Falls Jemand mir signalisiert, dass er oder sie voller Überzeugung seine negative Denkweise ausübt, ist das natürlich sein oder ihr gutes Recht. Falls ich das weiß, werden diese Menschen für mich zukünftig „unsichtbar“. Ich diskutiere nicht darüber, ich habe auch keine missionarischen Impulse, sie zu retten – ich gehe ihnen einfach aus dem Weg. Bei Telefonaten habe ich leider gerade wenig Zeit, Treffen vermeide ich. Unvermeidbare Begegnungen (wie im Beruf) halte ich an der Oberfläche und passe auf, dass ich keine verwendbaren Informationen über mich preisgebe. Unfassbar, wie gut auch das funktioniert! Ich praktiziere es seit vielen Jahren, und es ist sehr einfach. Zur Not höre ich sogar auf, zu grüßen. Das habe ich einmal bei einer von Gift durchsetzten Nachbarin getan – sie wurde einfach komplett unsichtbar. Und ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen deswegen.
Selbstfürsorge: Sprich mit Deiner Mama
„Ich will leben, ich will meine Mama lieben, ich will, dass meine Mama mich liebt“. In dem hier unten eingebetteten Video erklärt der Trauma-Experte und Psychotherapeut Prof. Dr. Franz Ruppert, wie sehr wir Erwachsenen daran leiden, dass wir in unserer allerersten Liebesbeziehung Enttäuschungen, Verlassenheit und Schmerz erfahren mussten. Besonders spannend: Was von diesen alten Wunden zeigt sich bei den Menschen in der Corona-Zeit? Warum bloß sind so viele so empfindlich und reizbar?
Am Ende des Interviews geben die Moderatorin Peggy Rockteschel und Prof. Franz Ruppert noch eine ganz praktische Übung vor, wie wir uns aus alten Traumen befreien können. Leicht zu lernen, immer wieder praktizierbar, zeitsparend und freundlich. Unbedingt gucken! Ein echt praktikabler Schlüssel zur Selbstfürsorge…
Liebe Eva, das hast Du mal wieder wunderbar geschrieben! Das ist anschaulich und man kann es direkt bei sich anwenden. Ich bin schon mal gespannt, was dabei herauskommt, was ich an mir am wenigsten mag.
Was mir hilft, positiv über den Tag zu kommen ist, glaube ich, Deinem Weg nicht unähnlich. Ich habe schon als Teenager aufgehört allen gefallen zu wollen. Dadurch wurde ich zwar zum „infant terribel“, hatte aber mit einigen Problemen Gleichaltriger nicht zu kämpfen. Ich war oft allein mit mir selbst, bin damit aber klar gekommen. Man könnte es Rückzug nennen, wenn man will. Aber ich denke, ich komme einfach ganz gut mit mir klar und fühle mich selten einsam. Natürlich habe ich trotzdem auch ungute Gefühle für andere. Dem gehe ich jetzt mal nach, Danke, Eva!