YouTube-Tipp: 2 Millionen Soloselbstständige – Unternehmerlohn oder Hartz IV?

Unter dem Titel „Corona – Aufschrei der Einzelkämpfer“ hat der Sender Phoenix eine 42-minütige Reportage bei YouTube veröffentlicht, die sich mit der Situation von Soloselbstständigen in der Corona-Zeit auseinandersetzt. Zu Wort kommen Künstler und Kulturschaffende wie Christoph Sieber, Gerburg Jahnke und Bernd Stelter. Auch abhängig Beschäftigten müsste verständlich werden, welche Dramatik sich dahinter verbirgt, dass in Deutschland Soloselbstständige keinerlei soziale Absicherung vorgesehen ist.

Hartz IV ist keine Alternative zu Kurzarbeitergeld – nicht nur die finanziellen Folgen für Einzelkämpfer und Familien sind verheerend. Es steht zu befürchten, dass unser Weg in eine selbstbewusste, innovative und agile Arbeitskultur deutlich geschwächt wird. Und wollen wir in einem Land ohne freie Künstler, Intellektuelle und Gaukler leben? Wollen wir wirklich diese Verarmung an Phantasie und Inspiration hinnehmen? Reicht es uns, wenn Politik und Wirtschaft für das Unterhaltungsprogramm der Bürger verantwortlich sind?

Freie Künste: Ab in Hartz IV?

Bild von Wilfried Pohnke auf Pixabay 

Man sagt, Kunst und Kultur sind nicht systemrelevant. Während lobbystarke Branchen und Konzerne hohe Zuschüsse erhalten, sind Alternativen zum Kurzarbeitergeld für Soloselbstständige und Kleinstunternehmen bisher immer noch nicht vorgesehen. Es wird auf den Gang zum Jobcenter verwiesen – doch wer einmal in Hartz IV gerutscht ist, kommt schwer wieder heraus.

Nicht nur, dass Hartz IV für die Familien der Betroffenen harte Konsequenzen hat – durch die geringen anrechnungsfreien Zuverdienstmöglichkeiten (monatlich 100 Euro) ist es fast nur mit einer sozialversicherten Festanstellung möglich, die Lücke zwischen Bedürftigkeit und finanzieller Unabhängigkeit zu füllen, wenn man einmal in Hartz IV gerutscht ist.

Lebenspartner von Selbstständigen werden verantwortlich für den Partner

Besonders heftig ist die Situation für Familien, in denen einer der Lebenspartner weiterhin Geld verdient. Denn dieser ist als Teil der Bedarfsgemeinschaft verantwortlich für den auftragslosen Partner und muss diesen bis zur eigenen Hartz-IV-Grenze mitfinanzieren. Handelt es sich um eine Lebenspartnerschaft ohne Trauschein, muss der arbeitende Partner sogar die Krankenkassenbeiträge des Selbstständigen tragen. Da bleibt eigentlich nur eine Trennung als Lösung.

Kinder, deren Einkommen und Sparbücher

Wenn das Paar Kinder hat, wird es noch komplizierter – auch wenn zurzeit noch auf Vermögensanrechnung verzichtet wird. Nachweisen muss man bei der Antragstellung zum Beispiel, ob die Kinder Sparbücher haben, die von den Großeltern gefüllt wird. Und ab Januar 2021 müssen diese womöglich wie bei allen anderen Hartz IV Familien verbraucht werden, wenn der Betrag das nicht anrechenbare Vermögen übersteigt.

Wer einen Überblick möchte zu Hartz IV Bezug, Bedarfsgemeinschaften und zulässigem Vermögen: Hier bei anwaltsauskunft.de – kein Wunder, dass so wenige Selbstständige sich lieber privat verschulden als dass sie zum Jobcenter gehen! Wie viele Betroffene psychisch erkranken oder sogar den allerletzten Ausweg für sich wählen, erahnen nur die, die viel in der Künstler- und Kulturschaffendenszene verkehren und sich auch während Corona dort austauschen. Es ist dramatisch.

Bisher wurden Überbrückungshilfen für Selbstständige und Kleinstunternehmen nur für laufende Betriebskosten gewährt. Die Unternehmer und Selbstständigen selbst erhielten keine Unterstützung zum Überleben. Der Faktor „Mensch“ war nicht einkalkuliert mit seinen Kosten für Wohnen, Leben, Versicherungen und Kosten für die Familie.

Unternehmerlohn als Alternative zum Kurzarbeitergeld?

Nun endlich scheint Minister Altmaier einzusehen, dass Selbstständige eine Alternative zum Kurzarbeitergeld brauchen. Das wäre eine wichtige Erleichterung, um die corona-betroffenen Branchen (Kunst, Kultur, Veranstaltungen, Freizeit, Reisen, Gastgewerbe, Bildung, Dienstleistungen, IT…) zu retten. Auf Dauer sehe ich nur die Möglichkeit, dass sämtliche Erwerbstätigen (eben auch Selbstständige und Beamte) in die Sozialversicherungssystem anhand ihrer realen Einkommen einzahlen – und Rechte erhalten. Ob wirklich der Unternehmerlohn für Selbstständige kommt? Man wird sehen, noch bin ich skeptisch…
Deutschlandfunk vom 21. Oktober 2020: Jetzt doch Unternehmerlohn für Selbstständige?

Als weitere Alternative könnte mir vorstellen, dass im Bereich Kultur und Unterhaltung der Einfluss des Staates dauerhaft größer wird und dass es im Öffentlichen Dienst zunehmend Festanstellungen für Kulturschaffende gibt – vielleicht ähnlich, wie es in der ehemaligen DDR war. Da könnte die Politik bessere Kontrolle darüber gewinnen, was als Kunst und Unterhaltung produziert wird.

In Zeiten von zunehmender Political Correctness und der Furcht vor „alternativen Bewegungen“ ist eine Verstaatlichung der Kulturszene sicher verführerisch für den Staat und dessen Sorge um Stabilität. Doch können wir es uns leisten, in einer rasend schnellen Zeit auf lauter gut versorgte loyale Staatsdiener zu setzen? Raten selbstständige Eltern ab sofort ihrem Nachwuchs, auf jeden Fall eine Stelle im Öffentlichen Dienst anzustreben? Kann das gut gehen?

Wirtschaft in einer agilen Welt

Agil bedeutet, dass die Wirtschaft nicht mehr linear planen kann wie in früheren Zeiten. Agil heißt, schnell und kreativ auf Veränderungen des Marktes zu reagieren. Das betrifft natürlich auch das Personal. So sinkt der Anteil des fest angestellten Stammpersonals in vielen Unternehmen – von der Agentur über den mittelständischen IT-Betrieb bis zum internationalen Konzern – auf das absolut Notwendigste.

Auf der einen Seite werden Freiberufler je nach Bedarf eingesetzt wie es bei Agenturen und freien Bildungsträgern üblich ist – auf der anderen Seite werden sozialversicherungspflichtige Anstellungen in Minijobs umgewandelt wie bei H&M. Kosten sparen und Gewinne maximieren? Festangestellte passen da immer weniger ins Konzept.

Zwei Millionen Soloselbstständige sind keine Kleinigkeit. Vielleicht haben noch viele abhängig Beschäftigte im Kopf, dass diese Selbstständigen sicher alles Querköpfe sind, die sich nicht in Unternehmensstrukturen eingewöhnen können – doch es ist auch einfach der Markt, der diese Flexibilität und Bereitschaft zur Selbstausbeutung braucht, um agil wirtschaften zu können. In den USA funktioniert schon fast jeder dritte Job auf selbstständiger Basis.

In Dänemark und anderen fortschrittlichen Demokratien gibt es Sozialversicherungssysteme, in denen es fast gleichgültig ist, ob man selbstständig arbeitet oder eine Festanstellung hat: Zum Schutz gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter zahlen alle Bürger mit Einkommen in die Kassen ein und erhalten Schutz, wenn sie sich nicht mehr selbst finanzieren können – wie jetzt in der Corona-Krise. Auch Rentenansprüche gibt es für jeden, der mindestens 40 Jahre in Dänemark gelebt hat – auch für Menschen, die nie abhängig beschäftigt waren und die sich zum Beispiel um ihre Kinder und Familie gekümmert haben.

Nun gut, lassen wir es dabei. Wenn Kunst, Kultur und Unterhaltung nicht mehr frei „von unten“ entstehen, und wenn es immer weniger Menschen gibt, die sich trauen, als Selbstständige ihrer Berufung und ihrer Unabhängigkeit nachzugehen, werden wir es spüren. Wenn Musiker, Gaukler und Schauspieler beruflich nur noch von öffentlichen Institutionen über Stipendien und Festanstellungen finanziert (und bewertet) werden, werden wir es merken.

Ich kann nur empfehlen, sich die 42 Minuten Reportage „phoenix plus: Corona – Aufschrei der Einzelkämpfer!“ bei Phoenix anzuschauen – da wird ein wenig klar, was wir gerade anrichten in Bezug auf Freiheit, Inspiration und Berufung im Beruf. Außerdem ist es einfach gemein, Selbstständige durch Corona in Hartz IV zu schicken. Einfach gemein…

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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