Marktforschung in der Kritik: Auf BigData vertrauen – oder mit qualitativer Marktforschung nach dem „Warum“ fragen?

Dank dem SPIEGEL steht gerade Marktforschung massiv unter Kritik. Unter dem Fokus „Betrug in der Marktforschung“ deckt das Magazin auf, wie häufig bei der Erhebung von Daten gepfuscht und betrogen wird. Die Gründe sind vielfältig: Immer weniger Menschen machen mit bei Umfragen und Interviews. Die Budgets für Marktforschungsaufträge sinken. Renommierte Agenturen arbeiten immer häufiger mit Subunternehmen zusammen. Die Alternativen wie automatisierte Datenerhebungen und Datenanalysen (BigData) werden immer zuverlässiger und rasch verfügbar. Da liegt es nahe, von der quantitativen Marktforschung zur qualitativen „do it yourself“ Forschung überzugehen – und die steht auch für kleine Unternehmen und Gründer zur Verfügung. Nur zu!

Das Problem mit der quantitativen Marktforschung

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Wie der SPIEGEL in seiner Recherche aufdeckt, sind quantitative Marktforschungsprojekte heute fehleranfälliger als je zuvor. Da die Fragestellungen der Anbieter immer mehr in die Nische gehen – und auf der anderen Seite immer weniger Menschen Lust haben auf Interviews und Befragungen am Telefon, wird der Aufwand für Marktforschungen mit größeren Stichproben immer aufwändiger. Doch wer soll das bezahlen?

Fragestellungen wie „In Deutschland dauerhaft lebende italienische Migranten, die mehrmals monatlich in Restaurants essen gehen“ lässt erahnen, wie kompliziert häufig die Suche nach bereitwilligen Interviewpartnern am Telefon wird. Festnetzanschlüsse sinken, Mobilanschlüsse sind schwierig zuzuordnen – und welcher Mensch will schon „ehrenamtlich“ für einen kommerziellen Anbieter zwanzig Minuten seiner kostbaren Zeit opfern?

Auf der anderen Seite sinken die Budgets für quantitative Marktforschung bei den Unternehmen (wahrscheinlich auch wegen der vielfältig vorliegenden Daten aller Internet- und Social Media User). So geben renommierte Marktforschungsinstitute die Umsetzung der Befragung gern an Subunternehmen ab – und diese wieder weiter an noch kleinere Agenturen. Da alle mit daran verdienen wollen, sinken die Preise pro Interview immer weiter. Der letztendliche Interviewer wird wahrscheinlich so schlecht bezahlt, dass er/sie keine Hemmungen hat, alle Möglichkeiten der Fälschung auszunutzen. Ansonsten stünden Interview-Aufwand und Interview-Honorar in keinem akzeptablen Verhältnis. Der Interviewer ist zum Betrug gezwungen.
SPIEGEL-Online vom 4.2.18: Alle Texte zum Betrug in der Marktforschung

Marktforschung und BigData (Nutzertracking)

Viele Unternehmen betreiben User-Tracking. Trackingdaten, die Auskunft geben über einzelne Web-User bzw. Smartphone-User, ergeben ein genaues Web- und Bewegungsprofil. Warum soll ein Anbieter die teure Marktforschungs-Leistung in Anspruch nehmen, wenn sich mit Monitoring-Tools, Social Media Analysen und BigData-Anbietern genaue Nutzerprofile erstellen lassen? Warum langwierige Befragungen und Auswertungen, wenn sich dank Automatisierung schnell und agil auf Datenanalysen reagieren lässt?

Ob die vielgerühmte Komplettüberwachung der Webuser tatsächlich Marketingentscheidungen vereinfacht, bleib mal dahingestellt. Es ist sehr komplex, vergangenes Verhalten mit zukünftigem übereinzubringen, wie wir aus Sicht der Konsumenten wissen. Wie häufig schütteln wir ungläubig den Kopf, wenn uns NACH dem Kauf immer und immer wieder genau dieses Produkt aus Kaufempfehlung eingespielt wird! Oder wenn aus einer Suchanfrage ein völlig absurder Schluss gezogen wird, der mit unseren Wünschen überhaupt nichts zu tun hat!

Vorteile einer qualitativen Marktforschung (DIY-Marktforschung)

Für mich war schon immer die Königsdisziplin, Marktforschung selbst durchzuführen. Man kann eben nicht alles einkaufen. Selbst Herzblut und Kreativität in Marktforschungsprojekte zu stecken, ist der quantitativen, statistisch validen Befragung häufig überlegen. Wenn ich mit zehn, zwanzig Kunden ein Interview durchführe zu meinen Fragen und Herausforderungen, erhalte ich nicht nur qualitativ bessere Antworten – ich machen auch noch meinen Kunden eine große Freude, weil sie die Befragung als Wertschätzung empfinden! Ich kann nach dem „Warum“ fragen und muss mich nicht an vorgefertigte Fragestellungen halten, die keinen Raum lassen für Individualität und Empathie.

Wie führt man eine qualitative Marktforschung durch?

  • Zunächst wird (wie immer bei Entscheidungsfindungen) das Ziel formuliert: Welche Frage steht im Raum, die beantwortet werden will? Welche Konsequenzen haben die Antworten der Befragung auf mein Marketingziel? Eignen sich eher Interviews oder Gesrpächsgruppen (Diskussionsgruppen) für die Erforschung von Einstellungen und Motiven?
  • Im nächsten Schritt wird nach Lösungen gesucht, um eine möglichst freie Antwort und Bewertung der Befragten zu gewährleisten. Denn nur authentische und freie Antworten bringen Erkenntnisse in der qualitativen Marktforschung. Die richtige Fragetechnik und Gesprächsführung ist entscheidend für den Erfolg
  • Ebenfalls entscheidend ist die Auswahl der Zielgruppe für die Befragung: Neukunden? Bestandskunden? Interessenten? Kunden von Mitbewerbern? Nutzer von Substitutionsprodukten? Empfehler? Andere Bezugsgruppen… Da wir bei der qualitativen Befragung relativ wenige Interviews brauchen, lassen sich über das CRM bzw. über das Web und das Social Web sicher die geeigneten Personen identifizieren.
  • Das Interview: Die Durchführung der Befragung braucht Ruhe und Zeit. Um Motive, Einstellungen und Verhalten der Befragten zu verstehen, sind offene Fragen und echtes Interesse der Interviewer entscheidend. Jegliche Beeinflussungwährend des Gesprächs muss vermieden werden.
  • Die Interviews müssen sorgfältig dokumentiert und nachbearbeitet werden. Vor jeder subjektiven Bewertung muss sich der Befrager hüten. Verfälschte Antworten sind für die qualitative Befragung verheerend, da die geringe Anzahl an Interviews Verfälschungen nicht verzeiht. Nur durch Übung und Erfahrung kann man „Gefälligkeitsantworten“ von wirklichen Einstellungen unterscheiden.
  • Auch wenn die Interviews bzw. Gesprächsrunden keine messbar eindeutigen Ergebnisse bringen, sind sie häufig erkenntnisreicher als Ergebnnisse aus einer repräsentativen Marktforschungsuntersuchung. Die klaren Zahlen und Ergebnisse bei der quantitaiven Marktforschung können leicht in die Irre führen.

Im Managementbuch „Mein größter Fehler: Bekenntnisse erfolgreicher Unternehmer“ erzählt Dirk Ahlers, Gründer des Tiefkühlkost-Herstellers Frosta, wie im Jahr 2003 die Umsätze von Frosta um 70 Prozent (!) einbrachen, nachdem das Führungsteam der Empfehlung eines Marktforschungsinstituts gefolgt war. Ein lehrreiches Beispiel das zeigt, wie riskant es sein kann, repräsentativen Marktforschungsergebnisse mehr zu vertrauen als dem eigenen Bauchgefühl.
Dirk Ahlers im Magazin impulse: „Mein Team und ich haben uns auf die Marktforscher verlassen“

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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