Nudging in der Politik – „Anschubsen“ statt Befehlen – unerlässlich für jede Demokratie

Die Definition von „Nudge“ (Schubs) in der Verhaltensökonomie ist, dass politische Institutionen, Unternehmen und andere Interessensgruppierungen jenseits von klassischen Belohnungs- und Bestrafungssystemen das Verhalten von Menschen beeinflussen. Nudges zielen auf das Unterbewusstsein des Menschen. Jeder Mensch trifft nämlich täglich ca 30.000 Entscheidungen – nur sehr wenige davon werden bewusst durchdacht. Nudging beschäftigt sich damit, uns über anziehende und abstoßende Rahmenbedingungen sanft zu lenken. Nudges zielen auf unsere emotionalen Reaktionen. Das Design soll bewirken, dass wir uns freiwillig für oder gegen etwas entscheiden.

„Es fühlt sich gut an“

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Im Jahr 2008 erschien das Buch Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“,aus dem sich ein gigantischer weltweiter Forschungszweig in der Verhaltensökonomie ergab. In dem Buch wird klar gemacht, dass Menschen nicht hauptsächlich aus ökonomischen Gründen handeln, sondern aus emotionalen. Will man ein Land freiheitlich führen, ist man auf die emotionale Zustimmung der Bürger angewiesen. Das geeignete Werkzeug hierfür ist „Nudging“. Man schubst die Menschen sanft emotional an, damit sie freiwillig tun, was politisch gewollt ist. Nicht nur in der Politik, auch im Marketing wird in der Zwischenzeit noch intensiver darauf gesetzt, das Unterbewusstsein durch sanfte Stubser zu beeinflussen.
Nudge bei Wikipedia

Unser Unterbewusstes in der Corona-Krise

„Das fühlt sich richtig an“ und „Das fühlt sich falsch an“ leiten uns auch in der Coronakrise. Gerade in angsteinflößenden Situationen sind wir Menschen auf unsere Intuition angewiesen. Während wir uns unzählige Informationen zur Gefährlichkeit des Virus über die verschiedensten Medien einverleiben, entscheidet unser limbisches System in Sekundenbruchteilen ständig, ob wir eine Information für wahr oder falsch halten. Vertrauen und Misstrauen können sich dabei ständig abwechseln. Als Individuum tragfähige Beweise für Informationen zu ermitteln und somit auf deren Wahrhaftigkeit zu überprüfen, ist im Grunde genommen unmöglich.

Überlebensinstinkte und Emotionen

Sämtliche Lebewesen sind in ständiger Gefahr, von Feinden herein gelegt zu werden. Der köstliche Lockstoff einer Pflanze kann ein Todesurteil für den Käfer bedeuten – und die gesetzliche Anordnung einer Regierung kann auf intransparenten Interessen beruhen, die den Bürgern bewusst vorenthalten werden. Man weiß es nicht – man MUSS vertrauen. Alternativ halten sich die Bürger nur deshalb an Gesetze und Anordnungen, da sie Strafen und gesellschaftlichen Ausgrenzungen entgehen wollen. Das ist der Weg der Diktatur. Das zerstört Kreativität und Intelligenz und ist nicht zukunftsfähig.

Demokratische Staaten und die Einsicht der Bürger

Während Autokratien darauf setzen, durch klar definierte Straf- und Belohnungssysteme politische Stabilität zu gewährleisten, sind parlamentarische Demokratien auf die Einsicht der Bürger und den gesellschaftlichen Konsens angewiesen. Empörungs-Emotionen können sich im Volk so leicht ausbreiten wie ein Virus, wenn man bei den Bürgern auf Freiwilligkeit angewiesen ist.

Sicherheit oder Freiheit – Sanktionen oder Nudging

In China sind heute sehr viele Bürger auf Seiten der Regierung, da sie gerade jetzt in Corona-Zeiten die Auswirkungen der Staatlichen Anordnungen und Sanktionierungsmaßnahmen schätzen. Sicherheit lässt sich in Zahlen ausdrücken. Während in den USA, die ja für Freiheit und das „Streben nach Glück“ stehen, erschreckende Infektions- und Todeszahlen durch die Presse gehen, scheint in China das harte Durchgreifen bis in die intimsten Bereiche der Bürger vorbildliche Ergebnisse zu bringen.

In Deutschland war während des Lockdowns ein gesellschaftlicher Konsens zu beobachten, der auf weltweite Bewunderung traf. Diszipliniert und einsichtig hielt sich der überwiegende Teil der Bürger an die Ausgangssperre. Als dann die Bundesländer begonnen, sehr unterschiedliche Lockerungs-Maßnahmen zu verordnen, sank bei vielen das Vertrauen in die sachlich begründete Fürsorge-Politik der Regierung/ Landesregierungen.

Plötzlich erheben sich bei uns immer mehr Empörungswellen. Ein gefährlicher Brandherd kann entstehen, wenn Bürger in einem politischen System mit Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht mehr glauben, was ihre gewählten Vertreter verlautbaren. Die Einen fangen nur an sich zu langweilen und schalten weg, wenn es im TV um Covid-19 geht – die anderen schließen sich Gruppen und alternativen Medien an, weil sie emotional erregt sind und sich betrogen fühlen.

Nudging ist politisch unabdingbar

Man sieht an diesem aktuellen Beispiel, wie entscheidend für Demokratien der gesellschaftliche Konsens ist. Geht das Vertrauen in die Entscheidungsträger verloren, sind die Konsequenzen unkalkulierbar. Je nach Empörungsgrad sind weder verächtliches Desinteresse noch leidenschaftlicher Aufruhr hinnehmbar. Darum ist Nudging so verbreitet in der modernen politischen Gesellschaft. Oder anders formuliert: Wir kommen um ein kluges emotional wirksames Design (die Verpackung/ der Rahmen) nicht herum. Die Spaltung der Gesellschaft muss verhindert werden.

Nudging in Deutschland während der Corona-Zeiten

Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass sich die Bundesländer auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Verständlich, wenn sich die einzelnen Länder voneinander abgrenzen wollen – doch der Schaden ist höher als der Nutzen. Man beginnt zu lachen, weil man bei der Überschreitung von Landesgrenzen innerhalb von Deutschland sein Verhalten ändern muss. Der rationale Teil unseres Gehirns erkennt unlogische Anordnungen, die sich gegenseitig widersprechen.

Ebenfalls wichtig ist es, dass durch Freundlichkeit, Offenheit und Dialog Empörung aufgeweicht wird. Die verunsicherten Bürger können nur dann emotional beruhigt werden, wenn man sie über Vertrauen und Einsicht sanft wieder einfängt. Ob in Kommunen, Regionen, Bundesländern oder dem Bund: Jetzt ist die Zeit des offenen Dialoges gekommen, indem alle Seiten ihre Bedenken und ihr Misstrauen ausdrücken können. So wie man bei Infrastruktur-Planungen die betroffenen Bürger in die Entscheidungen mit einbeziehen muss, wenn man Bürgerinitiativen und juristische Auseinandersetzungen vermeiden will.

Nudging ist das attraktive Design im Aufbau eines gesellschaftlichen Konsens‘. Nudging spricht unsere emotionale Befindlichkeit an, kann uns zu freiwilligen Höchstleistungen bringen – aber auch dazu, dass wir unempfindlich werden gegenüber Regeln und Appelle an unsere Vernunft. Wie so wunderbar in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ beschrieben, können die Konsequenzen verheerend sein, wenn es immer häufiger tönt „Seht doch, der Kaiser ist splitternackt!“.
APA (Austria Presseagentur): Verhaltensnormen in Zeiten von Corona

Einige Design-Ideen für die Politik in Corona-Zeiten

  • Einheitliche Regeln in allen Bundesländern, um das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit zu stärken
  • Transparenter Disput in der Wissenschaft, um allen Richtungen in den Medien Raum zu geben
  • Einbeziehung der Bürger in die Diskussion, welche politischen Entscheidungen getroffen werden
  • Transparenz in der Geld- und Wirtschaftspolitik
  • Kreativität und Philosophie im öffentlichen Raum ermöglichen – gerade in Zeiten von Social Distancing
  • Nachbarschaftshilfe und freiwilliges Ehrenamt fördern, um Risiskogruppen sozial und emotional aufzufangen
  • Berufliche und persönlichkeitsentwickelnde Programme entwickeln für Menschen, die ihre finanzielle Existenz verlieren
  • Juristische Klarheit darüber, dass allgemeine Überwachungssysteme in Deutschland unvereinbar sind mit dem Grundgesetz

OK, man könnte natürlich zu Recht kritisieren, dass diese Maßnahmen nicht zu vergleichen sind mit schön beleuchtetem Obst in der Kantine – oder der Fliege im Pissoir, damit Männer nicht über den Rand spritzen – doch Nudging kann nur dann seinen Design-Ausdruck finden, wenn die Überzeugung und die Vision dahinter glaubwürdig sind. Will man die Überlegenheit von parlamentarischen Demokratien beweisen, muss man diese leben.

Vom Nudging bis zur offenen Einschüchterung

Arte hat Anfang April 2020 eine 90-minütige Reportage veröffentlicht zum Thema „Überwacht – sieben Milliarden im Visier“. Hier kann man sehr gut beobachten, wie nah sich das sanfte Anschubsen des Unterbewusstseins und das direkte Eingreifen in Freiheit und Unversehrtheit sind. Nicht nur in China, auch in westlichen Demokratien wird die Überwachung der Bürger immer weiter ausgedehnt. Die Dokumentation macht sehr nachdenklich. Sie ist noch bis zum 19. Juni 2020 in der arte-Mediathek hier abrufbar

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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