Ich stelle mir vor, dass ich irgendetwas an mir trage, was mich von den anderen Mittelstufenschülern/Innen unterscheidet. Vielleicht trage ich eine dicke Brille, vielleicht bin ich unsportlich oder übergewichtig, vielleicht bin ich besonders groß oder klein. Vielleicht bin ich besonders gut in der Schule, vielleicht besonders schlecht. Vielleicht bin ich arm, vielleicht bin ich reich….
Anders sein ist immer riskant
Egal, was es auch sei, was mich anscheinend auffällig macht: Ich erwache jeden Morgen mit panischer Angst vor der Schule. Meine einzige Chance ist es, mich möglichst unsichtbar zu machen auf dem Hin- und Rückweg – und in den Pausen. Manchmal schließe ich mich in den Pausen auf der Toilette ein, bis es endlich klingelt. Manchmal verkrieche ich mich in der hintersten Ecke auf dem Schulhof – doch das nützt wenig – nirgendwo ist es sicher.
Mobbing – was ist das?
Wie ich Mobbing erlebe, fragst Du? Nun, um zur Schule zu kommen, muss ich mit dem Bus fahren. Da geht es schon los. An der Haltestelle sind noch andere Schüler/Innen aus meiner Klasse 8. Wenn ich Pech habe und sie sich langweilen, geht es direkt los mit Spott und Hänseleien. Manchmal kommen auch Drohungen.
Freunde habe ich nicht mehr, seit ich gemobbt werde. Niemand möchte sich mit mir befreunden, weil ihn das dann auch zum Opfer macht. Manche schauen mich zwar mitleidig an – doch niemand verteidigt mich. Ehrlich gesagt, kann ich es verstehen. Wer will schon freiwillig auch zum Opfer werden.
Mobbing erlebe ich nicht nur durch Worte, Streiche oder Gerüchte. Wenn es den Haupttätern (Kinder, die vor allem deshalb Anführer sind, weil sie auch Opfer sind oder waren – zum Beispiel im Elternhaus) langweilig ist oder sie selbst erfahrene Gewalt abreagieren müssen, kann es auch zu körperlicher Gewalt auf dem Heimweg kommen. Das ist das Allerschlimmste. Dann fühle ich Todesangst und möchte einfach nur weg sein – so richtig und endgültig weg.
Schlimm ist auch, wenn sie mich heimlich filmen oder fotografieren. Dann werden die Bilder bearbeitet, bis ich eine einzige Witzfigur bin. Über WhatsApp erreichen diese Videos und Bilder viele Kinder. Die lachen mich dann auf dem Schulhof aus und zeigen mit dem Finger auf mich.
Sich wehren gegen Mobbing?
Nein, meinen Eltern habe ich nichts erzählt. Meine Mutter neigt zu Überreaktionen. Ich habe Angst, dass sie in die Schule kommt und die Mobbing-Angreifer zur Rede stellen will. Oder dass sie zu meinem Klassenlehrer geht und ihm Vorwürfe macht. Dann hätte ich noch einen Feind mehr. Ich bin sicher, dass mein Klassenlehrer denkt, ich würde mich anstellen. Er hat ja keine Ahnung, was außerhalb des Unterrichts so alles passiert.
Was sollte man tun?
Wehret den Anfängen. Wenn Ihr Euch traut, „packt den Stier so früh wie möglich bei den Hörnern“ und lasst Euch schon die ersten kleinen Angriffe nicht gefallen. Sprecht aus, was da passiert und wie Ihr Euch dabei fühlt. Keine Beleidigung, keine Schmähung, keine Gewaltanwendung sollte unkommentiert bleiben. Aber beschimpft nicht die Mobber – sprecht nur einfach aus, was diese Ausgestoßenen-Rolle mit Euch macht!
Sucht Euch Verbündete, die nicht gleich die Täter verurteilen und sich rächen wollen – sucht Euch Verbündete, die auch für Mobber Verständnis zeigen. Nur Versöhnlichkeit bringt Lösungen. Schreibt jeden Tag ein Mobbing-Tagebuch. Sollte es nötig sein, Autoritäten einzuschalten, hat man genügend Beweise gesammelt – auch für Justiz und Polizei, wenn es sein muss.
Das Wichtigste ist, dass Ihr jemanden zum Reden findet, dem Ihr vertraut. Das kann ein Verwandter sein, eine Lehrperson, ein/e Sozialarbeiter/In oder sonst jemand, dem Ihr vertraut. Eltern neigen verständlicherweise dazu, extrem emotional zu reagieren, da sie ja ihr Kind lieben. Nutzt unbedingt die anonyme Seelsorge für Mobbingopfer. Das sind Profis, die helfen Euch daraus.
Kinder- und Jugendtelefon: 116 111
Telefonische Beratung, montags bis samstags von 14 Uhr bis 20 Uhr. Anonym und kostenlos in ganz Deutschland.
Website – Nummer gegen Kummer
Liebe Eltern, gebt Euren Kindern diese Telefonnummer – oder noch besser: hängt sie gut sichtbar an den Kühlschrank. Denkt daran: den Eltern zu gestehen, dass man Mobbingopfer ist, ist sehr schwer – ähnlich schwer, wie von sexuellen Angriffen zu erzählen. Anonym reden zu können, ist erst einmal der leichtere Weg. Und da redet man mit Profis!
Nie vergessen: JEDER kann Mobbingopfer werden! Auch Euer Kind oder Enkel…
Spannender Beitrag, danke fürs Teilen! Ich muss gestehen, dass ich selbst früher mehr der Mobber war, als der Gemobbte (klar musste man ab und zu auch einstecken, aber trotzdem wahr ich ehrlicherweise mehr derjenige, der ausgeteilt hat). Heutzutage schäme ich mich fürchterlich für das Verhalten von früher und uch habe mich – so gut es ging – mit den Opfern von früher ausgesprochen, mich bei ihnen entschuldigt (ausch, wenn es dem Kind von früher leider nicht hilft) und selbst reflektiert. Ungeschehen macht es das aber leider natürlich nicht. Ich denke heute ist es durch die ständigen lauten sozialen Netzwerke mit dem Druck zu Trends und so weiter noch um einiges schlimmer mit dem Mobbing (ohne die Taten von Früher herunterspielen zu wollen). Es ist einfach leichter eine Basis für Mobbing zu finden und jeden der davon abweicht runter zu machen. Da müssen wir Erwachsenen wirklich mehr in die Verantwortung gehen und Kinder schützen.
Ach lieber Frederik, heute hatte ich auch im Unterricht das Thema (15 Teilnehmer), unfassbar , was da so zusammenkam an Erfahrungen. Gemobbte, die zu Mobbern wurden, Gemobbte, die bis heute immer und überall das Gleiche erleben und sich damit „abgefunden haben“, Gemobbte, die schon Abschiedsbriefe geschrieben haben und Gemobbte (ich), die ausschließlich von Lehrern und Chefs gemobbt wurden anstatt von Schüler/Innen oder Kolleg/Innen. So viel Leid, so viele Traurigkeiten. Ich bin total stolz auf meine Leute im Kurs, die offen davon erzählen. Und nun Deine schöne, lange, selbstverantwortliche Erfahrungsantwort. Ich bin Dir sehr dankbar. Danke schön!