Seit Anfang 2020 hat sich über die ganze Welt ein Schleier der Desillusionierung gelegt. Angst vor Siechtum, Tod und Ansteckung, Vereinsamung, steigende Armut, Hunger – keine Kultur blieb verschont von dem Virus und den Folgen der Epidemie. Dann kam im Februar 2022 noch der russische Überfall auf die Ukraine hinzu, mit unkontrollierbaren Folgen für uns alle. Energiekrise, Inflation… wie wird es weitergehen? Über 50 Prozent der Arbeitnehmer wollen ihren Job wechseln, psychische Erkrankungen nehmen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen zu, eine große Müdigkeit hat uns alle erfasst. Kann es sein, dass das bisher überlegene System des liberalen Gewinnstrebens am Ende ist? Aber was könnte kommen nach dem Zeitalter des Kapitalismus?
Freiheit oder Sozialismus?
Autokratische Systeme nehmen zu, freiheitliche Demokratien nehmen ab. Wie die Bertelsmann-Stiftung zeigt, haben autokratische Systeme Demokratien bereits überholt – und auch in Demokratien hat die Qualität abgenommen. Zitat: „Ursache für diesen Rückgang von Demokratiequalität ist zumeist die einseitige Konzentration der politischen Eliten auf politische und wirtschaftliche Machtsicherung, der jegliche gesellschaftliche Entwicklung untergeordnet wird“ Bertelsmann-Stiftung im Februar 2022
Wenn das Vertrauen schwindet, schwindet die Grundlage für Demokratie. Doch was wäre die Alternative? Sozialismus mit dem Anspruch, dass es den Besitzlosen gut gehen möge dank staatlicher Fürsorge – zum Preis der individuellen Freiheit? Oder andere autoritäre Formen einer staatlichen Planwirtschaft wie in China? Oder ein völlig aus den Fugen geratener liberaler Kapitalismus, der die Schwachen, Alten und anderen „unnütze Esser“ am liebsten ausrotten würde?
Immer nur konsumieren, wie soll das gehen?
Heute früh las ich bei freitag.de, wie die Werbeindustrie völlig aus dem Ufer geraten ist (unten als Quelle verlinkt). Der weltweite Werbeumsatz hat sich von 2012 bis 2022 mehr als verdoppelt. Auf Schritt und Tritt wird der Mensch in seiner Funktion als Konsument, Wähler, Arbeitender, Familienmitglied, nach Glück Strebender und anerkannter Bürger von Botschaften verfolgt. Wer denkt, auf ihn hätte Werbung und Propaganda keinen Einfluss, vergleiche einfach die ideelle Grundhaltung der westdeutsch Geprägten zu den ostdeutsch Geprägten – selbst die politisch Oppositionellen in den beiden Teilen Deutschlands sind klar „westlich“ oder „östlich“ zuzuordnen. Selbstverständlich wirkt Erziehung, wirken Ideologien und vermittelte Wahrheiten und Fakten in der Bildung.
Die große Müdigkeit
So wie auch Kinder müde werden, wenn sie irgendwann erwachen aus dem Traum der heilen Familie, werden immer mehr Menschen müde in Bezug auf das gesellschaftliche System, in dem sie leben. Da strebte man jahrzehntelang nach gesellschaftlichem Aufstieg, nach persönlichem Sinn und nach der Gestaltung der Zukunft durch Kinder und Enkel – und nun scheint alles seine Festigkeit zu verlieren.
Gewinnstreben bedeutet, den Planeten zu zerstören, Konsum bedeutet, Schuld auf sich zu laden durch den Müll und die Abgase, die man unweigerlich produziert. Schon Kinder definieren den Menschen als den größten Schädling der Erde und rebellieren gegen das angebliche „Nach mir die Sintflut“ der Alten – und sind doch gleichzeitig so durchgehend als Konsumenten geprägt wie wohl noch keine Generation vor ihnen.
Worin also besteht der Sinn des Lebens? Religion hat an Einfluss verloren, gesellschaftlicher Aufstieg ist wackelig geworden, der Traum vom „reich und glücklich“ ist ausgeträumt. Familie wird immer mehr zur Belastung, wenn beide Elternteile zusehen müssen, wie sie all ihre Aufgaben und Pflichten bewältigen, ohne dass sie ausreichend Glück und Erfüllung dafür erfahren. Rollenbilder haben sich aufgelöst. Man kommt irgendwie durch den Alltag – oder auch nicht…
Was tun?
Ich weiß noch, wie ich als Jugendliche in einer Zeit lebte, in der die Jugend gegen die mächtigen Einflüsse der Nazis in Deutschland rebellierte. Universitäten, die Justiz, die Schulen, die Politik und die Behörden… überall saßen Täter mit nationalsozialistischem Hintergrund in einflussreichen Positionen. OK, die Jugend war nicht müde, sie war wütend. Es war eine andere Energie, denn Deutschland wuchs wirtschaftlich. Es lohnte sich, an die Zukunft zu denken und diese politisch mitzugestalten.
Wenn wir heute hingegen mitansehen müssen, wie nicht nur die demokratischen Rechte abnehmen, sondern auch die Möglichkeiten, eine private, glücklich machende Heimat und Sicherheit aufzubauen, ist Müdigkeit eine sehr natürliche Reaktion. Wenn der Glaube an die gesunde Gestaltung der Zukunft fehlt, wozu sich anstrengen?
Aaaaaaber ich denke, auch diese Form der Rebellion hat ihren Sinn. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt, doch das resignierte Nichtstun kann dazu führen, dass die Machtbesessenen ins Leere stoßen mit ihren Plänen. So wie es schon Laotse im Tao Te King formulierte:
„Das heißt die geheime Erleuchtung.
Das Weiche siegt über das Harte.
Das Schwache siegt über das Starke.„
Also habt Geduld, ich bin sehr optimistisch, dass die Große Müdigkeit genau das ist, was gerade gebraucht wird, damit wir nicht in einen schrecklichen Kampf zwischen den Mächten geraten. Ich selbst möchte aktiv daran mitarbeiten, dass die müden Menschen wieder an sich glauben, dass sie Energie gewinnen und dass sie Lust haben, ein erfüllendes Leben zu führen. Arbeit ist so wunderschön, wenn sie sinnvoll ist. Dem Menschen ein Helfer sein, ist so wunderschön, wenn man zusammenhält und sich vertraut.
Wir schaffen das schon, mit Fantasie, Kreativität und der Erkenntnis, dass die große Müdigkeit nur durch die große Tatkraft besiegt werden kann im großen Fitnessstudio des Lebens. Ich lebe gern in dieser Zeit. Möge ich arbeiten können bis zum letzten Moment meines irdischen Lebens…
Quelle: Der Freitag – Das Zeitalter der Werbeindustrie muss enden