Eva Ihnenfeldt: Aktuell beschäftigt sich die „Netzgemeinde“ viel mit dem Thema Freitod, da sich einer der menschlich besonders herausragenden Hauptakteure das Leben genommen hat. Wohl jede/r, der seinen Abschiedsbrief als Blogartikel gelesen hat, denkt intensiv darüber nach, was die Beweggründe waren, ob man selbst latent gefährdet sein könnte, ob es ein Recht ist, freiwillig aus dem Leben zu scheiden – oder so etwas wie Flucht. Vorneweg: Ich würde immer und zu jeder Zeit das Recht auf Freitod verteidigen, auch wenn es für Angehörige (vor Allem, wenn Eltern ihre Kinder aus diese Weise verlieren – aber auch Kinder ihre Eltern) mit das schwerste vorstellbare Schicksal ist. Man liest in diesem klugen, selbstkritischen, wunderbaren Abschieds-Beitrag, was heute wohl viele Menschen bewegt: Bin ich ganz echt so wie ich bin? Oder spiele ich permanent Rollen und verzweifle daran, dass ich nicht einfach so sein kann, wie ich bin…
Freitod wegen Lebenslüge?
Ich weiß, für mich wäre das Leben sinnlos, wenn ich meinen Glauben verlieren würde. Wenn ich nicht mehr spüren könnte, dass mein Leben einen Sinn hat, dass es etwas gibt, für das es sich zu leben lohnt, dass es mehr gibt als essen, trinken, Zeit rumbringen und Familie, Beziehung, Freundschaften leben. Auch ich würde daran zerbrechen, wenn ich immer nur Rollen spielen müsste, Aufgaben erfüllen, Verantwortung tragen und funktionieren. Was für ein Alptraum!
Ich habe einmal in einer Predigt gehört, dass die historische Nonne Theresa, die heilig gesprochen wurde, am Ende ihres Lebens diese absolute Sinnlosigkeit extrem schmerzlich erfahren hat. Alles kam ihr plötzlich vor wie eine einzige Lebenslüge, sie war krank ans Bett gefesselt und war gelähmt von dieser Ent-Täuschung, die ihre komplettes Leben sinnlos erscheinen ließ. Kurz vor ihrem Tod soll sie ihren Glauben wiedergefunden haben – ich hoffe, das stimmt. So zu sterben, muss qualvoll sein.
Auch ich bin nicht gefeit vor diesem Moment, in dem alles zusammenbricht und nichts bleibt als diese elende Lebenslüge. Niemand ist davor gefeit. Ob „Gutmensch“, „Bösmensch“, Egoist oder Altruist, ob gesund oder krank – es kann uns alle erwischen wie ein Autounfall: Plötzlich wachst Du auf und es ist da. ich möchte das auch nicht Depression nennen. Ich glaube sogar, dass Ent-Täuschung eine Station auf unserem archetypischen Menschen-Weg ist, die unvermeidlich ist.
Wie ich persönlich mich auf meine Lebenslüge vorbereite
Wie gesagt, ich lebe mit dieser Bedrohung wie andere Menschen mit der empfundenen Bedrohung, womöglich von Attentätern erschossen zu werden. Ich nehme sie sekündlich wahr und bin dankbar, dass ich bisher noch nie länger als ein paar Tage in dieser Verzweiflung leben musste. Kein Verdienst – einfach nur Glück gehabt.
Was ich versuche ist, in ständiger Selbstoptimierung Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Das hat natürlich seinen Preis. Wer so streng auf Lebenswahrheit achtet, taugt wenig für kontinuierliche Beziehungen – egal ob in Beruf oder Privatleben. Ich bin ein Wanderer. Jede Anhaftung erscheint mir riskant, erscheint mir als erster Schritt in eine Lebenslüge. Vielleicht ist genau diese Einstellung das, woran ich mal zerbrechen werde in der Erkenntnis meiner persönlichen Lebenslüge – man wird sehen.
Ich will meinen persönlichen Weg nicht zur Ideologie erheben. Es ist nur ein Weg, mit der Gefahr umzugehen, ein Weg unter unzählig anderen. Ich will auch nicht versuchen, Tipps zu geben, wie man sich vor dieser Verzweiflung schützen könnte. Wenn es dran ist, ist es dran. Manchmal ist es rückwirkend das Beste, was passieren konnte, weil man in ein neues Leben auf-brechen konnte, manchmal ist es ein langer trauriger Weg, den man nur mit medizinischer Hilfe bestehen kann. Manchmal heißt es einfach, demütig das eigene Schicksal annehmen und sich nicht zu wehren. Und manchmal ist Freitod die Entscheidung. Diese Entscheidung möchte ich auf Augenhöhe akzeptieren und respektieren, ohne darüber ein Urteil zu fällen. Immerhin war (und ist?) in anderen Kulturen der Freitod ein ehrenhaftes Ende, alles nur eine Sache der Perspektive.
Freitod inmitten der Netzgemeinde
Ich bin sehr berührt über diesen „Am Ende“ Blogbeitrag, der sicher für viele Menschen in ähnlicher Lage sehr wertvoll sein kann. Ich würde mich freuen, wenn er stehen bleibt und nicht gelöscht würde (was ich aber auch verstehen könnte). Ich bin sehr berührt, wie der virtuelle Trauerzug der Netzgemeinde durch Twitter und Facebook dieser Entscheidung die Würde verleiht, die sie verdient. Was für viele wundervolle Menschen, die ihren Freund und ihr Vorbild in Ehre ziehen lassen, auch wenn sie sich permanent fragen „Warum!“
Vielleicht war dieser öffentlich erklärte Freitod von einem Menschen, der das Netz als einen guten Ort wertgeschätzt hat, ein wichtiger Schritt, um all denen zu helfen, die irgendwann vor dem selben Spiegel stehen und fassungslos erkennen: Alles Täuschung, alles Tarnung.
Was ich mir von Euch, die sich in dieser Erkenntnis befinden, wünsche: Seid stolz darauf, dass Ihr das erkennt. Hadert nicht mit Euch, sondern seht, dass ihr an eine Schwelle gelangt seid, die den allermeisten Menschen verborgen bleibt: Die Schwelle zur Überschreitung der Selbstäuschung. Wir alle kennen die unzähligen Berichte von Menschen, die diese Schwelle überschritten haben und zu einer Freiheit gelangt sind, die nie wieder vergeht. Die glücklich werden konnten, gerade weil sie diese Sinnlosigkeit erfahren haben. Eckhart Tolle, Byron Katie als prominente lebende Vorbilder, – und viele andere. Ich will wirklich niemanden davon abhalten, sein Recht auf Freitod auszuüben – aber schade wäre es schon, wenn man dann die nächste Phase verpasst: Die des nie mehr wegzunehmenden Glücks. Die Phase, wo man den Rest des Leben tun und lassen kann, was man will. Die Phase der Unverwundbarkeit…
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