Ich bin aufgewachsen in einer Welt der quälenden Schuldgefühle. Alle Erwachsenen um mich herum waren traumatisiert durch die Erfahrungen mit Krieg, Hunger, Gewalt, Unterdrückung und entsetzlichem Unrecht. Jede/r hatte in irgendeiner Form Schuld auf sich geladen – und sei es nur durch Wegschauen. Die Männer waren meist als Soldaten zu Tätern geworden – und hatten gleichzeitig entsetzlich leiden müssen. Die Kinder waren häufig mit Schlägen und anderen grausamen Strafen gefügig gemacht worden in Familie und staatlicher Obhut.
Was für ein Leben! Doch Diejenigen, die vor 1918 geboren worden waren, hatte es noch schlimmer getroffen. Die Generation meiner Großeltern und Urgroßeltern hatte gleich zwei Weltkriege erlebt, und zwischen den Kriegen war die Zeit der großen Depression, Inflation, Arbeitslosigkeit, Hungersnot. Verrückt oder?
Kindheit als „Babyboomer“
Wir Ruhrgebiets Babyboomer-Kinder wuchsen also auf in einer Welt, in der alles herumschlich und irgendwelche Geheimnisse mit sich herumtrug. Viele Erwachsene substituierten ihre Schuldgefühle und Traumata mit Alkohol und Zigaretten. Alles versuchte, zu einem „normalen Leben“ zu kommen, mit Kleinfamilie, Häuschen, Auto und Jahresurlaub. Wir Kinder spielten noch in Brachflächen und Ruinen, die nach und nach Neubauten wichen.
Es tut mir so leid, wenn ich daran zurückdenke! Natürlich hat es Ewigkeiten gedauert bis ich in der Lage war zu begreifen, was meine Eltern und alle anderen Erwachsenen mit sich herumschleppten. Als Kind findet man ja alles normal, was da ist, und über Traumata, Depressionen und andere psychische Erkrankungen wurde erst dann gesprochen, wenn Jemand straffällig wurde in seinem Elend. In den Medien oder der Medizin kam so etwas ansonsten nicht vor. Einsame Lebensuntüchtige kamen in Aufbewahrungsanstalten.
Deutschland im Jahr 2022
In Deutschland leben wir heute in einer Welt, in der sich der Staat so intensiv um seine Einwohner/Innen kümmert wie die viel kritisierten Helikopter-Eltern. Sicher ist das auch nicht der Weisheit letzter Schluss und ich kann jede/n Einzelne/n gut verstehen, der oder die sich sträubt gegen die Reglementierungswut und die damit verbundenen Einschränkungen der persönlichen Freiheit.
Doch ich persönlich bin unglaublich dankbar, genau in diese Zeit hineingeboren worden zu sein, die mir auf diesem Fleckchen Erde so viel an Geborgenheit, Selbstentfaltung, Erkenntnisquellen, Komfort und beruflichen Möglichkeiten bietet. Und das mir als Frau!
Ein Leben als Frau
Wenn ich daran denke, wie selbstverständlich noch meine Mutter unterdrückt leben musste, und was es bis 1980 noch für Gesetze und gesellschaftliche Tabus für Frauen gab – in Deutschland! Ich war wohl Teil der ersten Generation, die bequem in den eingetretenen Pfaden der Frauenrechtskämpferinnen wandeln konnte. Ich durfte leben und arbeiten wie ich wollte, ohne dafür gesetzlich belangt werden zu können. Danke lieber Gott, ich bin so dankbar dafür!
Gestern meinte ein Coachee zu mir, dass er froh ist, dass einige seiner Familie in den letzten Jahren gestorben seien, da er davon ausgeht, dass es ab jetzt immer unerträglicher wird zu leben. Und ich weiß auch, dass viele junge Menschen so denken und fühlen. Ich kann auch diese Haltung gut verstehen, aber ich fühle ganz ganz anders.
Durch den technischen und systemischen Fortschritt habe ich keine Angst, mit zunehmenden Alter zu erblinden (was mir ja nun anscheinend blühen kann). Ich werde nicht wie früher als völlig hilflose Greisin herumirren und womöglich im Winter erfrieren, falls sich meine Kinder nicht erbarmen und mich bei sich aufnehmen. Ich werde Heizung haben, etwas zu essen – und höchstwahrscheinlich werde ich sogar dank technischer Lösungen weiter arbeiten können – unglaublich!
Der medizinische Fortschritt überwältigt mich. Es wird so intensiv geforscht an Lösungen, die ohne KI undenkbar waren. Diagnoseverfahren, operative Eingriffe, Therapieentwicklungen…. ja, die Schulmedizin hat auch ihre Schattenseite, keine Frage – aber ich bin so dankbar, dass es sie gibt und dass sie so viel Energie und Intelligenz in sich trägt!
Für meine Gesundheit zu sorgen, ist dank Internet und frei verfügbaren Wissen so viel leichter geworden als in analogen Zeiten, in denen ich darauf angewiesen wäre, Bücher zu kaufen oder Kurse zu besuchen, wenn ich krank bin. Naturheilkunde und andere Bereiche der Alternativmedizin sind so riesig, gesundheitsfördernde Persönlichkeitsentwicklung so umfassend, ich lerne und lerne und lerne – und fühle mich durchaus als Gestalter meines Schicksals. Ich bin kein Opfer, ich bin Königin meines Lebens. Das macht mich glücklich, demütig und dankbar.
Ich glaube, vor uns liegt eine sehr gute Zukunft und eine Welt, die für immer mehr Menschen Bildung, Emanzipation und Lebensgestaltungsvielfalt bereit hält. Dank des Computers und der selbst lernenden Systeme werden wir Lösungen entwickeln, die den Menschen befreien können von den existenziellen Schrecken des Lebens.
Autokratische Systeme versuchen zwar, ihre Bürger/Innen durch diese technischen Systeme zu geistigen Sklaven zu machen – doch wie wir an China sehen, muss dieser brutale Versuch auf Dauer scheitern. Nur ein freier, kreativer und mutiger Mensch ist ein systemstärkender Mensch. Einem braven, unterdrückten, gehorsamen Volk fehlt die Kraft, Neues zu erfinden und Visionen zu erdenken.
Querdenker
Die „Querdenker“ waren schon immer diejenigen, die menschlichen Fortschritt brachten. In meiner Generation waren es die jungen Intellektuellen, die Undenkbares ermöglichten mit ihrem politischen Verstand, der sich aus der Welt der nazigeschädigten, abgerichteten, schuldbeladenen Erwachsenen ergab. Die jungen Student/Innen, Kriegsdienstverweigerer und Hippies brachen Regeln, weil ihre Visionen mehr Kraft hatten als Gesetze und Sanktionen.
Nur Mut! Wir wachsen in eine spannende Zeit auf die wir uns freuen können. Ich bin gewiss. Und sage „Danke“. Wie schön ist es doch, dass ich genau zu dieser Zeit leben darf.