Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was für ein großer Einschnitt PokemonGo für unserer Gesellschaft ist. Ebenfalls möchte ich nicht wiederholen, wie groß die Downloadzahlen sind, möchte nicht wiederkäuen was das für die Aktie von Nintendo bedeutet oder welche Wissenschaftler jetzt wieder den Untergang der Menschheit prophezeien. All das ist zwar verständlich, all das ist nachvollziehbar, aber das eigentlich Wichtige überdeckt es. Mit PokemonGo bricht die Augmented Reality, die es vorher schon gab, die aber bisher keine Rolle spielte, mit Macht in unsere Gesellschaft ein. Egal ob PokemonGo nun ein Hype ist, der nachlassen wird oder etwas, was Bestand haben wird. Mit einem Male ist das, was bisher allein in Romanen der Phantastik abgehandelt wurde – ein Spiel, in dem man entweder komplett in die andere virtuelle Realität abdriftet oder in dem sich Elemente vermischen – mit einem Mal ist das Wirklichkeit.
Wer Anfang der 90er Kind war, der kennt die Pokemon. Und die Digimon. Und die anderen Varianten von kleinen Taschenmonstern, die man trainieren kann, die Fähigkeiten haben und die man in Kämpfen gegeneinander einsetzen kann. In Japan entfachen die Pokemon einen Riesenwirbel, ganz Flugzeuge werden mit ihnen bemalt, es gibt nichts, was man nicht von ihnen kaufen kann. Wissenschaftler in Deutschland beobachten das Ganze und versuchen, sich einen Reim darauf zu machen und besorgte Eltern fragen, wie man denn dieses Spieleverhalten beurteilten sollte. Und dann – dann fragte sich VICE 2014, was zu Hölle eigentlich mit diesen Taschenmonstern passiert wäre. Der Autor war nicht amüsiert: „Wir kommen in jungen Jahren mit wunderbaren Dingen in Berührung, verlieren sie dann aus den Augen, weil die Pubertät mit ihren beginnenden Regelblutungen und dem schlechten Hautbild all unsere Aufmerksamkeit verlangt, und Jahre später stehen wir dann vor den Trümmern unserer Erinnerungen und verfluchen raffgierige Industriechefs, die Franchises bis auf den letzten Cent melken müssen.“ Das war 2014.
Die Kinder der Spaßgesellschaft sind erwachsen
Die Gesellschaft in Deutschland war in den 90gern von einem Gefühl des Spaßes, des FUNs geprägt. Nachdem die Yuppies in den 80gern raffgierig Geschäfte gemacht haben, war es an der Zeit für einen Wechsel. In der Presse wurde das Wort der Spaßgesellschaft geprägt und 2009 war ein Beitrag eines Lesers der NEON sicher, diese Gesellschaft korrekt charakterisiert zu haben: „Der Spaß am Feiern und das Geld (welches teils verdient ist und teils von den Eltern kommt) verschleiert und vernebelt die Sicht auf morgen. „Ich lebe jetzt.“ – „Und morgen?“ – „Schau´ ´mer mal…“ Genau dies warfen in den 90gern die damaligen Erwachsenen der Jugend nur zu gern vor. Und als dann der Techno geborgen wurde, standen Eltern wie Wissenschaftler erstmal fassungslos gegenüber einem Musikstil, der nicht wie der Rock protestierte sondern der den Massen-Spaß initialisierte. Vielleicht aber war dies schon ein Protest, den keiner verstand? Jugend muss sich ja immer absetzen und abgrenzen.
Leute, die in der Spaßgesellschaft aufgewachsen sind, fanden ihren Spaß auch in Anime-Serien. Diese kamen im Lauf der 90er vermehrt ins Bewusstsein – RTL2-Nachmittags bestanden zu einem Großteil der eingekauften Serien, in denen Digimon, Pokemon und andere Monster ihre Unwesen trieben. Zwar kannte man als Vorläufer die Begeisterung vor allem von Mädchen für die Serie „Sailor Moon“ auf SAT1, man kannte noch Trickserien wie „Masters of the Universe“, „Ghostbusters“ oder „Familie Feuerstein“. Aber Anime-Serien? Vollkommen neu und unbekannt und aufregend. Und dass diese Serien teilweise mit einem aufgefeilten Marketingkonzept daherkamen – auch das war nicht neu, aber die Wucht von Pokemon in den 90gern war gigantisch. Und damals wie heute für die Älteren unverständlich.
Das eigentliche aber: Die Kinder der 90er sind erwachsen geworden. Sie bestimmen heute wesentliche Elemente des täglichen Lebens und die Sehnsucht nach der Welt, die vor dem Crash der New Economy, vor dem Rasen von Flugzeugen in Hochhäuser, vor dem Amoklauf eines Münchener Schützen – diese Sehnsucht wird raffiniert von PokemonGo angesprochen. Denn in PokemonGo gibt es diese heile Welt noch. Und die gab es schon immer: Im Spiel „Pokemon Gelb“ etwa fällt man, wenn alle Pokemon von einem anderen Trainer besieht wurden, nur in Ohnmacht. Und wacht dann am letzten Startpunkt wieder auf. In der Pokemonwelt gibt es freundliche Helferinnen, die immer bereit sind die eigenen Pokemon wieder mit Energie zu füllen. Es gibt grüne Wiesen, schöne Landschaften. Die Welt von Pokemon ist – mit Ausnahmen wie Team Rocket in der Anime-Serie abgesehen, deren Pläne aber auch stets scheitern – eine Idylle. Die Sehnsucht nach einer Idylle aber, die ist so alt wie es die Menschen gibt. Und nicht erst durch die Schäfer-Romane im Rokoko aufscheinend. Das selige Arkadien liegt immer dort, wo man nicht ist und nicht sein kann – und es ist ein imaginäres Arkadien. Das Leben eines Schäfers besteht halt nicht darin, nett unter einem Baum zu liegen und Flöte zu spielen.
Ihr spielt ja nur!
Dass diese Generation jetzt – zusammen mit Kindern und Jugendlichen für die das Jagen und Sammeln von kleinen Monstern mit magischen Fähigkeiten ja eigentlich zuerst gedacht wurde – also von PokemonGo so fasziniert ist, das hat natürlich mit dem Nostalgie-Effekt zu tun. Früher war ja alles viel schöner, bunter, heller. Na ja, störende Erinnerungen sortiert das Gehirn auch einfach aus. weswegen das Führen eines Tagebuchs angeraten ist, damit man später mal sehen kann, ob wirklich alles so schön und gut war. Und angenehme Erinnerungen mögen wir ja alle. Insofern: Nicht verwunderlich. Und ebenso wenig verwunderlich ist die Reaktion vieler Deutschen auf dieses Spiel: Es sei Tinnef! Zeitverschwendung! Überhaupt: Richtige Spiele sind ja nur Brettspiele. Da ist man noch richtig an einem Tisch als Familie zusammen und redet miteinander. Nur so könne soziale Interaktion überhaupt stattfinden! Und überhaupt: Diese Technik. Wir verdummen doch alle nur noch!
Wenn man nachfragt, ob die Kritiker sich das Spiel selbst angesehen hätten, wird man eher ein „Wieso das denn? Die Medien berichten doch darüber, wie schlecht das alles ist“ feststellen. Nun hat man natürlich das Recht des Nichtverstehens, das Recht des Nichtgefallens und das Recht des Nichtspielens – aber wie kann man sich eine Meinung bilden ohne sich wenigstens selbst mit dem Spiel beschäftigt zu haben? Erschreckender wäre die Frage: Kommen Leute immer nur so zu ihrer Meinung? Ohne, dass sie sich selbst mit Dingen beschäftige und durchdenken? Angesichts von PEGIDA und der AfD muss man wohl ein „Ja, leider, das tun sie“ offenbar statuieren. Doch dies ist nur ein Teil des Problems.
Der andere Teil ist: Das Spielen an sich gerät in einer Gesellschaft, in der selbst die Schüler eher fit für die Wirtschaft gemacht werden wollen, mehr und mehr in Generalverdacht. Solange es Serious Games sind, in denen Spieler etwas lernen, solange wird das noch einigermaßen akzeptiert. Spielend sich neue Kenntnisse erwerben, die gewinnbringend im Leben umgesetzt werden können? Prima. Und allenfalls toleriert man noch das Spielen von Kindern, das für sich ist, das keinen Nutzen bringt, das nur sich selbst genügt. Sie wissen es ja nicht besser, so scheint man zu denken, und sobald die Schule anfängt ist eh Schluss mit dem ständigen Spielen, da lernen die Kinder endlich was fürs Leben. Dass PokemonGo, das erstmal keinen Zweck hat außer dem Spielen an sich da merkwürdig beäugt wird – wen wunderts. Und dass sofort auch wieder versucht wird mit dem Spiel kommerzielle Interessen für sich selbst herauszuholen noch weniger. Natürlich ist das Interesse von Nintendo kommerziell. Und natürlich belebt sich so die alte Marke Pokemon wieder.
Dafür, dagegen: Die typische Kurve
Schön bei der Berichterstattung zum Thema kann man hier in Deutschland sehen, wie das Modell des Geoffrey Moore greift. Welches Gunter Dueck ja auch ständig benutzt und was wir uns immer in Erinnerung rufen sollten, wenn es um Neues geht. Ob nun Pedelecs oder eBooks – jedes neue Phänomen wird genau diese Phasen durchlaufen. PokemonGo wurde von den Enthusiasten mit Freuden angenommen. Und – was man nicht außer Acht lassen sollte: Auch von Leuten, die nur gelegentlich spielen. FarmVille oder Bloosom Blast, CandyCrush oder Clash of Clans. Das ist das Neue an PokemonGo: Dass die Augmented Reality, die allenfalls für Wenige interessant war im Mainstream angekommen ist. Ein Spiel vermischt die Realität mit einer Fiktion. Aus dem, was Autoren der Phantastik allenfalls zwischen einige Buchtitel packten – und was bisher an der Öffentlichkeit vorbeigelaufen ist, trotz etwa Kataloge der Autoindustrie, die auch schon Augmented Reality nutzen – das ist auf einmal Realität. Und man braucht keine Google Glass, keine Holololense-Brille dazu: Das eigene Smartphone reicht. Revolution!
Dass überwiegend Skepsis, ja, eine Verweigerungshaltung in Deutschland aufkommt – woran dies liegt, das ist eine Frage, die wir uns stellen müssen. Sicherlich: PokemonGo hat Gefahren. Datensicherheit und die Hoheit über die eigenen Daten etwa. Die Frage, was passiert wenn eine kommerzielle Firma auf einmal ein Datennetz über öffentliche Räume wirft ebenfalls. Aber diese Frage hätten wir alle schon seit 2013 diskutieren können und sollen, seitdem Ingress auf dem Markt ist. Aber Ingress ist nicht sexy genug gewesen, um diese Diskussion zu beginnen.
Die Frage ist auch: Was bringt eine reine Verweigerungshaltung, wenn man noch nicht mal bereit ist sich mit dem Spiel zu beschäftigen? Ist eine Diskussion nicht eher dazu gedacht sich wenigstens das Gegenüber auch anzuhören? Ist das sonst nicht so wie das, was Gunther Dueck auch immer bemängelt, der sinngemäß meinte: „Zu Beginn der Talkshow wissen wir schon, was der Einzelne sagen wird. Neue Erkenntnisse gibts dadurch nicht.“? Bringt uns das weiter in der Gesellschaft? Oder ist nicht ein Disput besser als nur ein Austausch von Meinungen?
Gelassenheit statt Hysterie
Etwas mehr Gelassenheit tut uns allen gut. Oder um es zugespitzt zu sagen: „Euch war es nicht Recht, dass die Jugend vor den Spielekonsole hing, euch ist es jetzt nicht Recht, dass sie spielend an der frischen Luft sind?“ Sicherlich bietet PokemonGo Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen. Anhand von PokemonGo kann Medienpädagogik zeigen, was sie kann – können Erwachsene zeigen, dass sie bereit sind sich auf die Welt der Kinder einzulassen, um mit ihnen dann über die Gefahren zu reden. Anhang von PokemonGo sehen wir aber auch die Zukunft: Spiele werden in Zukunft vermehrt die Realität mit fiktiven Dingen überlagern. Firmen werden sicherlich ebenfalls in ihren Apps diese neue Begeisterung nutzen. Für Werbung, Reklame oder zur reinen Information. Das heißt: Wir als Gesellschaft müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir mit der neuen Technik umgehen. Besser, wir tun das jetzt.