EU-Definition“Armutsgefährdung“ – ist nicht jeder Mensch armutsgefährdet?

Die Europäische Union definiert „Armutsgefährdung“ mit einem einkommensbezogenen Schwellenwert: Ein Haushalt, der weniger Einkommen zur Verfügung hat als 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens, gilt als armutsgefährdet. Einen davon abgegrenzten Begriff von Armut (z.B. absolute Armut) gibt es nicht. Die Definition ist etwas unglücklich, da ja letztendlich jeder Mensch armutsgefährdet ist. Durch Schicksalsschläge, falsche Entscheidungen, ausschweifenden Lebensstil, gesundheitliche Einbrüche, Sucht etc. kann auch dem Wohlhabendsten passieren, dass er oder sie materiell vor dem Nichts steht.

Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung

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Es wäre jedoch falsch, die irreführende Definition darauf zurückzuführen, dass die EU Armut verharmlosen will. Vielmehr hat man sich darauf geeinigt in dem Bewusstsein, dass in den allermeisten Industriestaaten die absolute Armut (Hunger, Durst, Frieren, Schutzlosigkeit bei Krankheit) nicht das Thema ist – sondern der Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe. Armutsgefährung bedeutet demnach, dass die materiellen Mittel nicht ausreichen, um sich am sozialen Leben zu beteiligen – und um schuldenfrei Anschaffungen aus dem vorhandenen Vermögen heraus zu tätigen.

Soziale Ausgrenzung – wer erlebt diese?

Viele Akademiker schwärmen noch von ihrer Studentenzeit, in der sie mit Sperrmüllmöbeln und schrottreifen Autos aus Geldmangel häufig Spagetti mit Margarine essen mussten. Und doch kann man sie nicht als armutsgefährdet bezeichnen, wenn die jungen Leute zuversichtlich in eine berufliche Zukunft geschaut haben, Anerkennung für ihre Leistungen erhielten – und in WG’s mit Freunden viele gemeinsame Aktivitäten hatten, die glücklich machen.

Langzeitarbeitslose, Rentner und soziale Ausgrenzung

Schlimm ist es, im Bereich der Armutsgefährdung zu leben, wenn genau diese „Glücklichmacher“ fehlen:

  • Man ist einsam
  • Man fühlt sich überflüssig
  • Man glaubt, nichts wert zu sein
  • Man glaubt, es wird nie mehr besser
  • Man lebt Tag für Tag ohne Aufgabe, ohne Anerkennung, ohne soziale Herausforderungen
  • Man hat Angst, dass auch das Wenige schwindet
  • Man lebt in ereignisloser Langeweile

Wer sorgt sich um die Armen?

Positiv ist hervorzuheben, dass die EU genau diesem Übel der sozialen Ausgrenzung begegnen will. Früher haben die Kirchen in Deutschland viel getan, um gerade ihren Senioren über Gemeinschaftsveranstaltungen Freude, Abwechslung und kulturelle Erlebnisse zu bieten. Spätestens seit Corona und den sinkenden Kirchensteuereinnahmen ist für diese soziale Gemeinde-Aufgabe in vielen Gemeinden kein Geld, keine Räumlichkeiten und Personal mehr da.

Großfamilie

(Groß-)Familien sind traditionell das System, das alle Mitglieder der eigenen Familie trägt – sowohl in materieller Hinsicht als auch emotional und in Krankheit und Schwäche. In unseren Wohlstandsgesellschaften ist Individualität und Selbstbestimmung ein wichtiger Wert geworden, der auch zur Folge hat, dass Familienverbände sich auflösen. 41 Prozent der Haushalte in Deutschland werden von einer einzigen Person bewohnt.

Seelische Armut

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Auch mit angespartem Vermögen und einer ausreichenden Rente kann man „armutsgefährdet“ leben, da man sich in eigenen vier Wänden verkriecht und keine soziale Aufgabe mehr erfüllt. Auch als gut situiertes Rentner-Ehepaar kann man sozial verelenden, weil der Tag aus nichts Weiterem besteht als aus Haushalt, Garten und Fernsehen.

Der Schlüssel für ein reiches Leben

Der Schlüssel für ein erfülltes Leben sind die Aufgaben, die ein Mensch hat. Wichtig sein, gebraucht werden, Abenteuer erleben, hoffnungsvoll in die Zukunft schauen und sich geborgen fühlen, Tag für Tag etwas dazulernen – und stolz auf sich sein. Das sind die Dinge, die reich machen. Selbstverständlich muss man immer darauf gefasst sein, dass der Satz stimmt „Freunde in der Not gehen 1.000 auf ein Lot“ – aber ein erfülltes Leben erzeugt auch Gutmütigkeit gegenüber dem fehlerhaften Nächsten (und gegenüber unserer eigenen Fehlerhaftigkeit 😉 ).

Technologie und Zukunft Arbeitslosigkeit

Studien zeigen, dass durch die rasant fortschreitende Technologie immer mehr Arbeitsplätze überflüssig werden. Der Mensch muss lernen, ein erfülltes Leben führen zu können, ohne es an bezahlte Arbeit zu koppeln. Glückliche Rentner sind häufig auch diejenigen, die nach dem Erwerbsleben die Enkel mitversorgen und damit ihren Kindern ermöglichen, Wohlstand und Karriere aufzubauen. Immerhin engagieren sich 50 Prozent aller Großeltern bei der Betreuung und Versorgung der Enkel! Sie haben eine emotional glücklich machende Aufgabe und ein strukturiertes Leben. Langeweile ist da selten ein Problem.

Wie wäre es, wenn wir außerhalb unserer Familie Aufgaben übernehmen, die damit vergleichbar sind? Natürlich ist es für langzeitarbeitslose Menschen wichtig, dass diese Aufgaben aus der materiellen Not herausführen und würdig entlohnt werden. Natürlich ist unabdingbar, dass die Aufgaben mit Perspektive und Sicherheit verbunden sind. Schlimm sind Projekte, die nach ein, zwei Jahren enden – und dann ist alles wieder so aussichtslos wie vor dem Projekt. Das zermürbt.

Die Würde des Menschen

Kurz und gut: Armutsgefährdung hat in unseren Gesellschaften vor allem damit zu tun, dass den Menschen die Würde genommen wurde. Auch wenn man nicht in Mülleimern nach leeren Flaschen suchen muss in der materiellen Verzweiflung – Einsamkeit und das Gefühl der Wertlosigkeit quält jung wie alt. Perspektivlose Jugendliche, gemobbte Schulkinder, Menschen mit einschränkenden Behinderungen und Erkrankungen. Ich wünsche mir einen Kampf gegen Armutsgefährdung im Sinne der sozialen Fülle. Den Rest bekommen wir schon irgendwie hin 😉

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Armut – vom Elend eines Begriffs

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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