„Eva schlägt dem Tod ein Schnippchen“ Kurzgeschichte

„Was ist das denn für ein Titel!“ Der Tod runzelt die Stirn. „Du schlägst mir ein Schnippchen? Eine nicht gerade freundschaftliche Ausdrucksweise.“ „Nicht böse sein“, schmeichelt Eva. „Aber die Erkenntnis ist so neu für mich und macht mich regelrecht übermütig“.

Eva und der Tod sitzen sich am Spielbrett gegenüber. Sie sind irgendwann Freunde geworden, seitdem spielen sie unentwegt „Innerer Frieden“. Ziel des Spiels, einer Mischung aus Schach und Scrabble, ist es, ein menschliches Leben nach ganz bestimmten Spielregeln zu beeinflussen. Die Aufgabe des Todes ist es, als Schiedsrichter zu bewerten, ob Evas Spielzüge ein erwünschtes Resultat bewirken. Evas Aufgabe ist es, als Stichwortgeber Menschen zu helfen, ihren inneren Frieden zu finden. Das macht sie da unten, auf der Erde. Sie liebt ihren Job.

Evas Mensch ist schon ganz schön alt. Die meisten anderen Leute in diesem Alter sind in Rente. Eva hingegen ist ein unruhiger Geist, ständig in Bewegung, ständig auf Achse. Es ist verrückt! Je älter sie wird, desto umtriebiger wird sie. Wenn sie nicht arbeitet, hört sie Podcasts, wenn sie keine Podcasts hört, läuft sie von A nach B nach A nach C. Wenn sie nicht hin- herrennt, sitzt sie irgendwo und schreibt.

Während sie diese Zeilen in ihr Handy tippt, wartet sie – wie so oft – am Bahnhof, um heim zu fahren. Es ist spät, eine Stunde vor Mitternacht, und Deutschland schießt zwei Tore. Jubelrufe ertönen auf den Bahnsteigen aus unzähligen Kehlen und Handys.

Eva kommt ins Gespräch mit ihrer Banknachbarin, Dorsa aus Tunesien. Eine kluge, schöne, junge Frau. Sie tauschen sich aus über Geld, über Sinn, über Möglichkeiten. Dorsa lebt von Bürgergeld und einem Minijob in der Küche. Sie hat keine Ideen, keinen Glauben, keine Wünsche. Sie kommt klar mit dem wenigen Geld – man gewöhnt sich daran. Dorsa überlebt. Kein Schulabschluss, keine Ausbildung. Keine Ausbildung, keine Zukunft. Eva redet auf Dorsa ein wie ein Wasserfall, will ihr Mut machen, Kraft geben, Willen übertragen… Als sie sich verabschieden, nimmt Eva Dorsa kurz in den Arm.

Fragend schaut Eva den Tod an. Habe ich etwas bewirken können? betteln ihre Augen die seinen an. Der Tod als Schiedsrichter gibt 1 von 10 möglichen Punkten. „Sie wird ein paar Tage lang über Deine Worte nachdenken. Vor allem, weil Du ihre Klugheit erkannt hast. Aber die Ketten um ihr „Ichbinnichtswert“ Herz sind stark. Sie ist eine der Unzähligen, die im Bauch des Schiffes Erde angekettet rudern – ohne Hoffnung, ohne Sinn.“

Zuvor war Eva in einem Theater in der Nordstadt gewesen. In dem Stück wurde die Regentrude beschworen. Als das Stück sein freudiges Ende gefunden hatte, erhob sich draußen vor dem Hinterhoftheater ein heftiges Gewitter. Lachend spannt Eva ihren Schirm auf und läuft durch Blitz und Donner Richtung Bahnhof.

An einem Imbiss machte sie Stopp, als der Platzregen zu stark wird und bestellt einen Tee. Sie wird höflich zu dem Tee eingeladen und strahlt dankbar „Darüber freue ich mich richtig“. Der junge Mann strahlt auch. Man zeigte ihr dann noch den Weg zum Bahnhof.

„Und?“, fragt sie ihren Freund, den Tod: „Habe ich hier irgendwie etwas bewirken können?“ Der Tod lacht: „Es war lustig, wie Du den langhaarigen intellektuellen Best Ager von den Bösen Onkelz vorgeschwärmt hast und sie wortlos den Tisch verlassen haben. Willst Du da noch einmal hingehen?“ „Ich weiß noch nicht. Ich darf da vielleicht mal Geschichten vorlesen. Vielleicht nehme ich diese!“

„Bewirkt hast Du tatsächlich was. Das bescheidene, freundliche Mädchen aus Wesel, das auch kein leichtes Leben hatte, wie sie Dir kurz andeutete, hat wie Du die Magie gespürt, die durch das Stück beschworen worden war. Du hast ihr Deinen Goldtaler geschenkt mit dem Auftrag, ihn in Wesel irgendwo zu vergraben. Das hat sie sehr ernst genommen. Gut gemacht! 7 Punkte“.

Eva freut sich. Das war völlig intuitiv gewesen. Die Schauspieler hatten an die Zuschauer zum Ende des Stückes Goldtaler-Süßigkeiten verteilt. Das Mädchen neben ihr war aufgestanden und hatte ihren Taler auf dem Stuhl liegen lassen. Aus Zuneigung hatte Eva ihren Taler daraufgelegt, sozusagen als Verbindung. Als sie dem Mädchen beim Abschied den Vergrabungsauftrag gab, hatte sie gehofft, dass das Mädchen dadurch in Wesel die Regentrude beschwören kann. So wie Goldmarie Frau Holle erweicht mit ihrer Unschuld. Für welchen Wunsch auch immer…

„Und wie schlägst Du mir nun ein Schnippchen?“, fragt der Tod lächelnd. „Erzähl‘!“

„Ach, Du weißt doch besser als ich, was ich damit meine“. Eva schaut ihn liebevoll an. „Aber gut. Ich will es erzählen.

Eva erzählt

Als ich jung war, habe ich immer mal wieder im Gespräch fallen lassen, wie sehr ich mich auf den Tod freue. Ich liebe das Leben – habe ich gesagt – aber ich freue mich auch darauf, wenn es zu Ende ist und ich endlich schlafen kann. Manchmal, wenn ich Auto fuhr, habe ich mir vorgestellt, ich hätte im nächsten Moment einen tödlichen Unfall. Das war schön.

Ich habe schon immer viel getan, das ist wahr. Oft haben mir besorgte Freunde gesagt, ich würde sicher bald in einem Burnout landen. Ich solle mehr ausruhen und abschalten. Na ja, wenn man mit 20 anfängt, ein Kind nach dem anderen zu bekommen, scheint man Action wohl zu lieben. Ich wusste nicht, warum ich so war. Ich habe es einfach gelebt, ohne darüber nachzudenken.

Erst zwei Tage vor der Beschwörung der Regentrude habe ich es verstanden. Lange Zeit war es der Teufel, dem ich unbewusst mit meinem unsteten Leben ein Schnippchen geschlagen habe. Will er mich skrupellosen Hedonisten in Fallen locken, die meiner Seele schaden, bin ich schon wieder weg. Will er mich mit seinen Verführungs- und Erpressungsnetzen in einem günstigen Moment einfangen, bin ich schon wieder weggeflutscht, bin schon wieder ganz woanders.

Es ist mein Leben lang so geblieben wie damals im Sportunterricht beim Völkerball. Ich kann nicht fangen, ich kann nicht werfen. Ich renne nur panisch vor den harten Würfen der überlegenen Mädchen weg – und das alles in einem klein begrenzten Spielfeld.

Immer wieder musste die Sportlehrerin irgendwann mit der Pfeife das Spiel resigniert abpfeifen, weil es den gegnerischen Goliathinnen nicht gelingen wollte, mich zu treffen! Ich rannte hin und her wie ein Kaninchen, wurde fast ohnmächtig vor Anstrengung, meine Brille verrutscht, meine Haare verklebt, mein Gesicht puterrot, mit rasendem Herzen… Meine Angst vor dem Ball verhinderte meine Kapitulation. Ich blieb, bis der Gong zur Pause ertönt, bis die doofe Sportlehrerin abpfeifen musste.

Ich bin komplett untauglich, doch ich überlebe.

Heute bin ich alt und ich habe gelernt, das Leben auf dem Planeten Erde bedingungslos zu lieben. „Nur noch ein bisschen“, bettle ich permanent. Dieses ganze Leben hier zwischen Freude und Leid, zwischen Wahnsinn, Licht und Dunkelheit ist so wundervoll, so einzigartig, so kostbar!

Ich liebe die Menschen alle, egal, wie sie sind. Die Verlierer wie die Gewinner, die Braven wie die Wütenden, die Helfer wie die Krieger, die Gerechten wie die Ungerechten. Dem Kaninchen auf dem Spielfeld ist regelrecht schwindlig ob der ganzen Eindrücke, die es empfängt! So viele Begegnungen, so viele Wunder. So viele Möglichkeiten, mit den Augen das Gänseblümchen am Wegesrand zu umarmen. So viele traurige Menschen, so viele Sehnsüchte nach Erlösung, Sehnsucht danach, dass jemand Dich liebt. Es ist so süß! Menschen sind alle so unfassbar süß in ihrer Sehnsucht nach Erlösung!

Kurz und gut, ich will gar nicht mehr sterben so wie früher. Ich bin nun das Kind, das auf dem Spielplatz bettelt „Nur noch ein bisschen“, wenn Mama und Papa nach Hause wollen.

Heute schlage ich unstetes Kaninchen nicht mehr dem Teufel ein Schnippchen (der hat schon länger aufgegeben und das Spiel abgepfiffen, weil es ihm zu blöd wurde), heute schlage ich Dir ein Schnippchen, geliebter Freund Tod, Du Erzengel der barmherzigen Erlösung.

Du, der Du die Braven wie die Wütenden, die Hassenden wie die Liebenden befreist aus der harten Schule des Planeten Erde, bitte lass mich noch ein bisschen weiterspielen. Ich will noch nicht sterben. Ich will arbeiten, wirken, lernen, verbinden, lösen, verstehen – und vor allem will ich lieben, denn lieben ist wunderwunderschön.

Nimm mich erst von dieser Erde, wenn ich gelernt habe, ohne Urteil, ohne Hierarchie-Illusion alle Menschen zu lieben wie mich selbst. Na ja, und mit meiner Unstetigkeit schlage ich hoffentlich Deinen Erlösungsversuchen ein Schnippchen nach dem anderen. Wie eine Motte will ich Überlebenskünstler sein. Mal sehen, wie alt ich dabei werde.“

„Na denn, Motte Eva, lass uns weiterspielen. Hast Du schon für heute etwas vor?“

„Nun, zunächst schreibe ich einen Beitrag zum Thema „Mitarbeiterbindung“, und heute Nachmittag treffe ich mich mit einer Ex-Arbeitskollegin, die bald in eine Reha muss. Ich werde versuchen, Punkte zu machen, aber ob es mir gelingt? Keine Ahnung. Könnte ich auch nur ein Pünktchen machen für ihren inneren Frieden, für ihren Glauben an sich selbst, wäre ich happy. Mal sehen…“

Die Beiden lächeln sich an und schweigen ein bisschen. Nichts tun muss ja auch mal sein, nicht wahr?

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

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