Gedanken zu Allerheiligen: vom Alt werden und sterben

Sonntag besuchte ich eine alte Freundin, mit der ich Jahre im Chor gesungen habe. Sie ist jetzt 81 und auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Sie zeigte mir Fotos aus ihrer Kindheit und erzählte von ihrer Familie. Plötzlich flüsterte sie etwas verschämt: „Manchmal habe ich das Gefühl, mein Sohn wartet darauf, dass ich endlich sterbe – aber nein, so etwas darf ich ja gar nicht denken.“ Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Wie ist es, wenn ich alt und gebrechlich werde, und meine Kinder (schon von Staats wegen) verpflichtet sind, sich um mich zu kümmern? Kann ich damit leben, lästig zu sein? Kann ich damit leben, dass man mich besucht aus Pflichtgefühl – obwohl man viel lieber an den Wochenenden etwas Anderes täte?

Warum sind alte Menschen oft so langweilig? Warum kann es nicht spannend sein, wenn sie von früher erzählen, wenn sie lebendige Geschichtsbücher sind, zu deren Füßen wir uns behaglich niederlassen und andächtig lauschen? Kann man das alt werden üben – so dass man es schafft, mit 80, 90 noch „attraktiv“ zu sein, weil man ein Quell von Weisheit und Erfahrung ist – voller Gelassenheit und innerer Lebensfreude?

Mein Vater war am Ende seines Lebens tatsächlich so ein „Glücksfall“. Natürlich war es auch für mich eine zusätzliche Pflicht, für ihn einkaufen zu gehen und mich um seine alltäglichen Angelegenheiten zu sorgen. Natürlich hatte auch ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so viel arbeite und oft nur hereinschaute, den Kühlschrank vollpackte und die Waschmaschine anstellte – und zack – schon wieder weg war.

Doch es war auch sehr schön. Er war immer so glücklich, so zufrieden mit seinem Leben. Als ich ihn einmal fragte: „Papa, was war die schönste Zeit Deines Lebens“, dachte er kurz nach und meinte: „Jetzt. Ich muss nicht mehr arbeiten, ich habe eine schöne Pension als Beamter, Du und die Kinder, Ihr kümmert Euch so gut um mich und ich kann leben, wie ich es will. Das ist sehr schön“.

Zwar war er die letzten Jahre (nach einem Schlaganfall) dement, aber das war überhaupt nicht lästig. Es war spannend, mit ihm zu reden, weil er ein durch und durch spiritueller Mensch geworden war. Er stand gern sehr spät auf (schlafen konnte er gottseidank immer gut), setzte sich mit Joghurts und Schokolade in seinen bequemen Sessel und studierte die Bibel. So richtig mit Bleistift und lauter ergänzender Literatur. Das tat er ganzen Tag und das wurde ihm auch nie langweilig.

Ich konne mit ihm diskutieren über den Sinn des Lebens, über das Leben nach dem Tod (er meinte, das wäre ihm gleichgültig, über so etwas würde er nicht nachdenken, er wäre ja geborgen, das wäre genug), über Schuldgefühle und die ewigen, ätzenden Urteile, die man nicht will und die man doch fällt.

Er wurde immer sanfter, lieber und freier, von Tag zu Tag. Er urteilte über gar nichts mehr, forderte nichts und wünscht sich nichts. Er hatte keine Angst vor Siechtum und keine Angst vor dem Tod. Er nahm, was kam, ohne Widerstand an, und wenn die Kinder und ich Sonntags kamen und mit ihm Mittag essen wollten, stand er nach wenigen Minuten (und wenigen Höflichkeitsbissen) auf und meinte freundlich: „Kinder, seid mir nicht böse, ich zieh mich zurück. Bleibt ruhig, so lange Ihr wollt“.

Als er starb, konnten wir bei ihm sein. Er starb, wie er am Schluss lebte: leise, unaufdringlich, ruhig, ohne Widerstand. Es war keine Mühe, es war ein wunderschönes Erlebnis, dabei zu sein, wie er sich langsam vom Irdischen löste und nichts zurückließ als einen Körper, der müde und verbraucht war.

Ich wünsche mir von Herzen, dass ich es schaffe, so wie er alt zu werden. Ich wünsche mir, bis zur letzten Minute meines Lebens eine Bereicherung für diese Welt zu sein, die ich so sehr liebe – und die doch auch so beschwerlich ist. Ich wünsche mir, immer tiefer in die Geheimnisse unserer Seelen zu dringen, nichts mehr zu beurteilen, nichts mehr zu bewerten und nichts mehr zu fürchten. Ich wünsche mir, so zu sterben wie der Indianervater von „Little Big Man“, der hinauszog mit den Worten „Heute ist ein guter Tag zum Sterben“ – der niemandem Arbeit machte und der niemandem lästig wurde.

Und Euch Kindern wünsche ich, dass Ihr es schafft, ehrlich zu sein mit Euren alten Eltern. Dass Ihr ihnen sagen könnt, wenn Ihr schwankt zwischen kindlichem Schuldgefühl, zwischen Liebe und Wut auf ihre Macht über Euch. Dass keine Reste übrig bleiben, wenn sie gehen, keine Vorwürfe und keine offenen „Rechnungen“. Sterben ist eine Gnade, vielleicht das größte Geschenk, das uns das Leben zu bieten hat. Lasst es uns in Frieden und Freuden zelebrieren – und uns gut darauf vorbereiten. Es geht…

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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One thought on “Gedanken zu Allerheiligen: vom Alt werden und sterben

  • Reply Dorothea Linnenbrink 1. November 2010 at 11:04

    Schön was du geschrieben hast.
    Ein Tipp glücklich und weise alt zu werden stammt von Seneca: Nimm jeden Tag als ein Leben für sich.

    Und hier ein sehr berührendes Buch, was das Thema „Leben und Tod“ behandelt: Dienstags bei Morrie von Mitch Albom.

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