Ich arbeite viel mit Menschen, die ALG II (Bürgergeld/ Grundsicherung…) beziehen. Heißt: die Langzeitarbeitslosen werden zumindest für 3 Stunden täglich als arbeitsfähig eingeschätzt. Nur, wenn sie komplett arbeitsunfähig sind, können sie zur Sozialhilfe wechseln – was selbst bei psychisch oder körperlich schwer erkrankten Menschen sehr selten gelingt. Heißt: Menschen, die langzeitarbeitslos sind oder nach der Einreise nach Deutschland Anspruch auf Leistungen vom Jobcenter haben, erhalten monatliche Bezüge vom Staat, ohne eine direkte Gegenleistung zu erbringen. Die meisten von ihnen geben mir recht, wenn ich beklage, dass ein „Nehmen ohne Geben“ die Seele zerstört.
Warum schadet das Bürgergeld der Seele?
Tief in uns Menschen sitzt eine Waage für das Berechnen von „Geben und Nehmen“. Die meisten Menschen, die von sich sagen, dass ihnen Gerechtigkeit wichtig ist, meinen mit dieser Aussage genau das: Der Ausgleich zwischen Nehmen und Geben sollte stimmen.
Ich selbst bin anders. Ich bin nicht neidisch auf Menschen, die arbeitslos sind. Würde Geld auf Bäumen wachsen und man könnte jedem ein schönes Monatseinkommen daraus finanzieren, würde ich weiter arbeiten – nein danke, ich will nicht arbeitslos leben.
Geld wächst außerdem nicht auf Bäumen – und den sozialversicherungspflichtig arbeitenden Menschen zuzumuten, sie sollten die gegenleistungsfreie bedingungslose Grundsicherung ohne Murren finanzieren, ist höchstens mit dem Argument begründbar: Das senkt die Kriminalitätsrate an Eigentumsdelikten und Gewalt.
Die Reichen und wir anderen…
Selbstverständlich sitzen die Profitiere des Systems in jeder Gesellschaft ganz oben in der Nahrungskette. Internationale Konzerne bleiben relativ unberührt von Verpflichtungen gegenüber den Sozialsystemen, den Bildungseinrichtungen, den medizinischen und pflegerischen Finanzierungen. Oder wie es ein Ex-Polizist in einem Podcast so trefflich formulierte: „Die Polizei ist im eigentlichen Sinn dafür da, die Reichen vor den Armen zu schützen“.
Arbeitslos und arbeitend…
Ich wünsche mir, dass wir langsam so zusammenwachsen in Deutschland, dass arbeitslos und arbeitend sich auf Augenhöhe begegnen im täglichen Schaffen. Zu tun gibt es genug.
Was die Finanzierung und Organisation von Arbeit betrifft: Auch Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst werden aus Steuern finanziert. Wenn unsere Grundsicherung/ Bürgergeld-Leistungsempfänger/innen sich fünf Stunden täglich für das Gemeinwohl einsetzen würden, wäre das eine wertvolle Arbeitsleistung für die ganze Gesellschaft.
Die Innenstädte und Öffentlichen Verkehrsmittel wären gepflegt, man könnte Feste und Projekte organisieren und durchführen, es gäbe in den Schulen saubere Sanitäranlagen und Unterstützung für Schüler/Innen und Lehrpersonal in vielerlei Hinsicht. Alte Menschen, die hauswirtschaftliche Unterstützung brauchen, lernten ganz neue Welten kennen: aus dem Nahen Osten, aus Asien, Afrika, Südamerika, Süd- und Osteuropa…
Jeder kann was tun
Irgendetwas kann jede/r tun, auch wenn er gesundheitlich beeinträchtigt ist. Ich habe Bürgergeldbezieher, die hervorragend sind in Umgang mit Computersystemen, mit Smartphones, mit handwerklichen Dienstleistungen. Sie könnten anderen Hilfsbedürftigen zur Seite stehen bei der Bewältigung des häuslichen Alltags, beim Umgang mit digitalen Geräten, bei Renovierungsarbeiten oder bei Umzügen. Menschen, die ihr Heim nicht verlassen können, können Online-Dienste übernehmen wie Telefon-Hotlines oder Verwaltungstätigkeiten.
Lehren und lernen
Es gäbe viele Kurse, in denen erfahrene Gemeinwohltätige den neuen zeigen, wie man zugewandt und achtsam kommuniziert, wie man Demenzkranke beruhigt und verhaltensauffälligen Kindern Mut macht ….
Migranten, die gut Deutsch sprechen, könnten in Vorschulklassen für Kinder, die noch neu sind in Deutschland, Integrationsleistungen bringen, nicht nur sprachlich, sondern auch darin, den Kindern die deutsche Kultur und deutsche Bräuche zu vermitteln.
Zusammenleben – zusammen arbeiten
Warum das nicht passiert? In den Niederlanden und den skandinavischen Ländern ist die Haltung „Geben und Nehmen“ selbstverständlicher als bei uns. Vielleicht, weil dort die Identifikation mit der Heimat stärker ausgeprägt ist.
Nicht nur den Migranten wäre durch so ein Prinzip des „Nehmens und Gebens“ geholfen, um hier in Würde und Stolz für ihre Familien eine Zukunft aufzubauen, auch uns Deutschen würde es guttun, die gläserne Mauer zu unseren Zugewanderten aus aller Welt abzutragen und in einen fruchtbaren Austausch zu kommen.
Ich erlebe die Zusammenarbeit mit den vielen weltweiten Kulturen als großen Gewinn für mich persönlich. So viel Gastfreundschaft, Herzlichkeit, Mitgefühl und spirituelle Tiefe, auf der anderen Seite so viel Trauer, so viele Traumata: entsetzliche Armut, Gewalterfahrungen, Angst – und nun die Hoffnung auf eine gute Zukunft. Zusammen leben und arbeiten ist befruchtend für alle Seiten.
Die Kriminalität der jungen Männer würde sinken, weil sie sämtlich zu „Zivildienstleistenden“ würden. Ja, es ist anstrengend, Smartphone-abhängige Jugendliche an die Arbeit zu bekommen, ich weiß.
Mit unserer heutigen Leichtigkeit, sich bei Bedarf krankschreiben zu lassen, müsste Schluss sein (was auch die Ärzte freuen würde). Natürlich gäbe es finanzielle Konsequenzen bei „Gemeinwohl-Schwänzereien“ und anderen Schaffens-Verweigerungen. Ein bisschen Zwang muss ein.
Die sozialen Kontakte würden steigen und die psychischen Erkrankungen von Jugendlichen würden sinken. Einsamkeit würde seltener und die allgemeine Gesundheit würde besser. Die Bildung unserer Kinder würde wachsen und die Bereitschaft zum Mittun würde blühen.
In einer unipolaren Welt wäre Deutschland ein Vorbild für alle. Eine Gesellschaft voller Gemeinwohl-Schaffender, das wäre mein Traum von Deutschland 4.0.
Du hast ja so recht: wenn alle etwas zum Gemeinwohl beitragen (dürften), dann würden sich auch die Vorurteile im Sinne von „arbeitsscheues Gesindel, macht sich auf unsere Kosten eine gute Zeit“ von selbst in Luft auflösen.
Kannst du mir und sicher vielen anderen erklären: warum dürfen Menschen selbst dann nicht arbeiten, wenn sie effektiv niemandem einen Arbeitsplatz streitig machen würden?
Hi lieber Jürgen! Ich vermute, dass die Gewerkschaften das auch heute noch verhindern. AGH’s (1 Euro Jobs) sind auch heute sehr eingeschränkt möglich, um keinen Arbeitsplätzen Konkurrenz zu machen. Außerdem dürfen meine Klienten nur wenige AGH’s annehmen, danach steht ihnen diese Möglichkeit nicht mehr zur Verfügung. So schade! Das ist vom Prinzip her perfekt: Man erhält bis zu 250 Euro monatlich eine finanzielle „Belohnung“ für die Arbeit (ich glaube, bis zu 6 Stunden täglich), und wenn man nicht kommt, gibt es kein Geld. Vielleicht bewegt sich da mal was. Hier in Dortmund ist es so schmutzig und ungepflegt im öffentlichen Raum – da gibt es nun mal keine ordentlichen Arbeitsplätze, die langfristig den Lebensunterhalt sichern könnten!