Daten-Sparsamkeit oder offene Kommunikation – was ist besser für die Demokratie?

Gestern abend hatten wir eine angeregte Diskussion darüber, ob man freigiebig mit seinen Daten sein sollte und im Web offen kommunizieren – oder ob es besser wäre, grundsätzlich auf Daten-Sparsamkeit zu achten. Liefert man sich politisch aus und kann kalt gestellt werden, wenn man seine Überzeugungen in sozialen Netzwerken zeigt? Oder liegt gerade in der Daten-Sparsamkeit die eigentliche Gefahr, weil man ständig auf der Hut ist und die Schere im Kopf immer selbstverständlicher wird? Was ist die größere Bedrohung für Demokratie und Gesellschaft? – So, genug mit „man“ – da will ich doch mal von mir sprechen…

Ich brauche meine freie Rede!

Wer mich kennt weiß, wie wichtig mir persönliche die freie Rede ist. Mein Bestreben  ist schon seit Ewigkeiten, Fühlen, Denken, Sprechen und Tun in Übereinstimmung zu bringen. Jede diesbezügliche Einschränkung ist eine Bedrohung für mich. Es geht so weit, dass ich lieber einsam sein würde als dass mir der Mund verboten wird. Das kann ich nicht ertragen. Das würde mich krank machen.

Vielleicht freie Rede nur in der Offline-Welt?

Natürlich könnte ich mich aus sozialen Netzwerken heraushalten und ausschließlich im analogen Leben meine ethischen Überzeugungen diskutieren – doch ich gebe zu, dass mich die Verbindlichkeit analoger Netzwerke oft genug regelrecht abschreckt. Schnell fühle ich mich gefangen und in Dinge verstrickt, in die ich nicht verstrickt werden will. Ich schätze die Distanz der sozialen Netzwerke, das hilft mir beim Sortieren, bei der Recherche, bei der Planung und beim Denken…

Social Media und Demokratie

Ich weiß, dass im Moment in Deutschland das Pendel in die Richtung ausschlägt, dass der Schutz vor dem öffentlichen Blick sehr im Mittelpunkt steht. Das digitale Zeitalter lässt sich nicht mehr zurückschrauben – da erstreben viele Menschen einen kleinen Rest an Kontrolle, indem sie so wenig wie möglich von sich im Netz finden wollen. Tatsächlich traue ich mich seit dem 25. Mai kaum noch, Bilder von öffentlichen Veranstaltungen in sozialen Netzwerken zu posten, da ich nicht von allen Personen auf dem Bild das (schriftlich nachweisbare) Einverständnis einholen kann. Ich fürchte, bald wird es in Deutschland nur noch Bilder von Natur und Tieren geben – und natürlich Selfies 😉

Wenn Bürger sich über soziale Medien organisieren

Die Parlamentswahlen in der Türkei hingegen zeigen, wie kraftvoll es für eine Demokratie ist, wenn Bilder, Videos und Diskussionen im Social Web auftauchen. Obwohl die autokratische Regierung unter Erdogan die Opposition mit harten Sanktionen bedroht, lassen sich die Menschen nicht verbieten, mit ihren Smartphones Twitter, Facebook und YouTube zu nutzen.

Erdogan und die AKP empfinden diese Social Media Gefahr als so gewaltig, dass sie sogar kurz vor der Wahl während einer Rede des Oppositionsführers Ince das Internet abgeschaltet haben – als viele Türken seine Rede live gestreamt haben. DAS ist freie Meinungsäußerung und friedlicher Widerstand – nicht die permanente Angst, gesehen zu werden. Um einen möglichen Wahlbetrug zu beweisen, hat die Opposition eine App programmiert, die von Wahlbeobachtern in den Wahllokalen eingesetzt wird. Wäre so eine Aktion ohne Social Media denkbar? Einsetzbar sicher, doch medienwirksam wohl kaum… (aus der TAZ am 23.6.18)

Merkwürdigerweise rufen ausgerechnet da die meisten Bürger nach dem Recht auf Daten-Sparsamkeit, wo es die größte Pressefreiheit gibt – in Deutschland. In den meisten autokratischen Systemen ist Social Media das wichtigste Werkzeug für politisch wache Bürger, um sich abseits der Regierungs-Medien in ihren Netzwerken zu informieren und zu organisieren (und ja, auch Bilder und Videos viral zu verbreiten). Sagt das nicht etwas aus über die Kraft von Social Media für Demokratie, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbestimmung und Emanzipation?

Die Deutschen und ihr Recht auf Ordnung

Ich finde es sehr schade, dass die deutsche Mentalität so stark nach Recht und Ordnung strebt und so wenig Freiheit und Mut zulässt. Anscheinend ist es uns lieber, wenn wir von staatlichen Organen, Arbeitgebern, Digitalkonzernen und Marken überwacht werden – als wenn wir in der Bevölkerung Gesicht und Meinung zeigen.

Keine Bilder mehr von Menschen?

Natürlich muss auch ich darauf Rücksicht nehmen und werde in Zukunft keine Menschen mehr ablichten, wenn ich öffentliche Events besuche (ich kann ja Müll und Bäume fotografieren 😉 ), doch ich hoffe inständig, dass wir zur Besinnung kommen und ein bisschen mehr Großzügigkeit zulassen als emanzipierte, selbstbewusste Bürger. Wir vertun großartige Chancen, wenn wir uns hauptsächlich damit beschäftigen, wie wir uns am Optimalsten verstecken können vor dem „Volk“ um uns herum.

Wenn uns sogar die von ihrer Regierung wirklich bedrohten Türken vormachen, wie man sich wehrt, indem man sich öffentlich zeigt und äußert, sollte das doch ein bisschen, bisschen nachdenklich machen oder? Recht und Ordnung sind ja schön und gut, doch unser Vertrauen in Staat, Militär und Polizei ist vielleicht doch ein wenig übertrieben. Das hat die deutsche Geschichte oft genug gezeigt.

 

 

 

 

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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