45 Minuten-Geschichte von Eva Ihnenfeldt: Katarina

Ich bin seit fast einem Jahr Mitglied einer Schreibwerkstatt der VHS Dortmund. Judith ist unsere Kursleiterin, und so sitzen wir abends als Gruppe zusammen, erhalten von Judith Schreibimpulse, und dann schreiben wir los. In dieser Woche ging es bei dem Impuls um Schnee, Winter – und um Geschichten, die drinnen spielen. Wir waren zu siebt, und wir hatten 45 Minuten Zeit für eine Geschichte oder ein Gedicht. Hier kommt meine kleine Geschichte: Katarina

Katarina

Katarina sitzt immer in ihrem Rollstuhl. Außer, sie liegt in ihrem Bett. Katarina geht nicht gern hinaus. Sie sitzt, seit sie mit sieben Jahren den Unfall hatte, im Rollstuhl. Am Liebsten sitzt sie in ihrem Zimmer – in ihrer kleinen, geschützten Welt.

Katarina ist gern allein. Katarina ist die, die gern aus dem Fenster schaut und sich abends erfreut an den erleuchteten Fenstern der Anderen. Katarina liebt es, wenn es dunkel ist. Katarina liebt den Winter.

Es hat geschneit. Straßenlaternen erleuchten den frisch gefallenen Schnee, Schneeflocken tanzen im Schein des Lichts. Es ist still, so still, wie es nur ist, wenn Schnee die Welt bedeckt.

Katharinas Welt ist überschaubar. Da ist sie in ihrem Zimmer, und da ist das Heimgebäude, in dem sie schon so lange lebt. Sieben Jahre war sie alt, als der Unfall passierte. Erst der Unfall, dann zwei Jahre Krankenhaus und unzählige OP’s. Seitdem ist sie hier.

Katarina nimmt ihr Fernglas und blickt zur anderen Seite ihrer überschaubaren Welt. Ein Mietshaus mit vier Etagen und acht Wohneinheiten. Sie kennt sie alle. Die Zugänglichen, die ihr manchmal zuwinken, bevor sie schlafen gehen. Die Verschlossenen, die schon bei Einbruch der Dunkelheit sorgfältig ihre Vorhänge schließen, die Offenherzigen, die sich gern mit allem zeigen – und die Unbekümmerten, die gar nicht merken, dass man sie beobachten kann. Das sind ihr die Liebsten.

Im Erdgeschoss ist eine Schule für Erwachsene.

Von ihrer Pflegerin hat Katarina erfahren, dass es eine Schule für Arbeitslose ist, die dort lernen sollen, sich erfolgreich zu bewerben. Tagsüber schaut Katarina gern dort in die Fenster des Klassenraums. Meist sitzen die Teilnehmer stumm vor ihren PC’s. Vorn stehen ein Lehrer oder eine Lehrerin. Sicher erzählen sie den Arbeitslosen, wie man sich richtig bewirbt.

Katarina ist nun 19. Sie hat ihren Schulabschluss erworben in einer Schule für Behinderte, und sie ist froh, dass es vorbei ist. Sie möchte eigentlich nur allein sein in ihrem Zimmer. Sie möchte Ruhe, und sie möchte am Fenster die Abende genießen mit ihren Nachbarn, die allesamt so anders leben wie sie selbst.

Es ist Abend. Es ist dunkel. Es hat geschneit. Katarina mit dem Fernglas sieht erstaunt, dass im Klassenraum noch Licht brennt. Heute war der Unterricht irgendwie anders gewesen als sonst. Es wurde viel gelacht, die Teilnehmer liefen herum, sprachen miteinander, schienen an etwas Gemeinsamen zu arbeiten, das sie so richtig fesselte.

Eine Neue war als Lehrerin da. Irgendwie war sie anders als die Anderen. So lebendig, so wild, Katarina bekam schon vom Zusehen Kopfschmerzen. Gut, dass sie nicht da drüben sein musste. Nun, am Abend, saß die Neue am Lehrerpult und tippte in den Computer. Vielleicht musste sie Dokumentationen machen.

Plötzlich schaute die Frau auf, schaute aus dem Fenster, entdeckte Katarina mit dem Fernglas hinter der Gardine. Sie stand auf und ging zum Fenster, öffnete es und rief „Darf ich einen Moment rüberkommen?“ Katharinas Blut schien zu gefrieren. Sie wollte rüberkommen? Zu ihr? Wie absurd! Natürlich nicht. Katarina war ein Gucker, ein Hörer, ein Tastender, Fühlender, ein Beobachter, ein mit Sinnen ausgestatteter Geist.

Sie sah in lähmendem Entsetzen, wie die Lehrerin das Fenster schloss, den Computer ausschaltete, die Tür öffnete – und von außen wieder schloss. Einige Minuten später klopfte es an Katharinas Tür. Ihre Pflegerin stand da und sprach „Katarina, hast Du Lust auf Besuch? Hier ist jemand, der Dich gern kennenlernen möchte“.

Man weiß nicht, warum Katarina diese wilde, lebensstrotzende Frau, die neugierig hinter der Pflegerin ins Zimmer linste und winkte, einließ. Es passierte einfach. Die Pflegerin brachte duftenden Jasmintee – und die beiden Frauen saßen sich gegenüber, tranken den köstlichen Tee aus japanischen Porzellantässchen und schauten aus dem Fenster in die glitzernde, schneeweiß bedeckte Nacht. Nach einer Zeit sagte die Fremde leise „Danke schön. Du hast mir mit Deiner vollkommenen Stille eine große Freude gemacht. Darf ich wiederkommen?“

Ab da begann eine wunderbare Freundschaft zwischen den unterschiedlichen Frauen, der jungen Sinnesatmenden und der alten Sinneslebenden. Viele Abende saßen sie zusammen, schwiegen, redeten, lauschten. Katarina wurde eine große Schriftstellerin. Die Lehrerin ist tot.

Eva Ihnenfeldt, 18. Januar 2024

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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