Uta ahnte, dass ihr Leben nun so bleiben würde. Tag für Tag und Nacht für Nacht würde sie für den Rest ihres Lebens Löcher in die Luft starren, außer, wenn sie schlief. Oder auch dann, aber davon wusste sie nichts. Renate erinnerte sich nie an ihre Träume. „Uta! Mein Mädchen, mein Mäuschen, wie schön, dass Du da bist! Du bist mir von allen alten Menschen hier irgendwie am ähnlichsten. Ich könnte Dich andauernd in den Arm nehmen – Du tust mir so gut…“
Uta drehte sich um.
Die Eva ist da. Schiebt den Wagen mit Kaffee und Kuchen in die Kaffeestube und kommt auf sie zugerannt, nimmt die 86jährige zärtlich in die Arme. Utas Augen lächeln ein kleines Bisschen. Das tut Eva gut und sie strahlt
Georg, der 90-jährige Mathematikprofessor, der vor wenigen Wochen noch ein dickes Buch über Reinkarnation und die damit verwobene schamanistische Kunst im Selbstverlag veröffentlicht hat, sitzt bereits gemeinsam mit Uta an einem der Kaffeestubentische. Eva bringt ihm einen Apfeltee. Den Teebeutel hatte er mitgebracht. Apfeltee in der Kaffeestube war aus.
Die Drei müssen geduldig sein, müssen warten, bis sich die Kaffeestube wieder leert. Zwei Stunden lang wuselt Eva herum, hat viele auffällig schweigsame Gäste aus der Pflegestation, bedient eine hundertjährige strahlende Demenz-Vergeistigte im Rollstuhl mit Teddy auf dem Schoß, schenkt Kaffee ein, vergisst andauernd die Bestellungen: „Wie war das? Mit Zucker oder ohne“ preist den „Naja-geht so“-Kuchen an und nimmt alles in den Arm, was ihr vor die Augen läuft.
Da ist Erika, die Schaffnerin, die nix mehr mit Menschen zu tun haben will (die aber Eva in ihrer beginnenden Demenz so viel zu erzählen hat, dass diese nervös wird wegen ihrer Servier-Aufgaben), Da ist Maria, die damit hadert, dass sie so eine „böse Mutter“ gewesen sei, weil sie so viele Jahre lang mehrmals in der Woche schlimme Migräneattacken hatte, die der ganzen Familie auf den Sack gingen (Eva streichelt, tröstet, nimmt in den Arm), Brigitte, die heute mit 86 Jahren noch montags und mittwochs in der Kaffeestube Deutschunterricht gibt für die Altenpflegeschüler/Innen aus Afrika und für die Reinigungskräfte aus der Ukraine. …
Heldenreisen
Irgendwann wird es dann wieder leer, die Pfleger schieben die Rollstühle wieder raus. Wer noch übrigbleibt, sind Uta, Georg und Eva. Sie sitzen beisammen und sprechen über die Bedeutung von Reinkarnation und Schamanismus.
Georg, der sein Leben lang balanciert zwischen Wissenschaft und Spiritualität. Er will so unbedingt einen Mittelweg finden zwischen Materialismus und Glauben an „Was auch immer Du bist“. Nun ist er neunzig, seit einem Jahr in der Einrichtung. Lange wird er nicht mehr leben, das ist ihm klar. Georg fühlt sich seit dem kleinen Schlaganfall auf Lanzarote, der ihn zur Heimkehr nach Deutschland zwang, oft sehr müde.
Uta und Eva sind sich – wie fast immer – einig: Das Thema ist uninteressant. Es gibt keinen Grund, beim Thema Wiedergeburt irgendetwas auf die Spur zu kommen. Uta ist zwar schwer depressiv, jedoch gleichzeitig tief geborgen in ihrem intuitiven Wissen um „Das große Ganze“.
Dass sie nur noch Löcher in die Luft starrt, hat damit zu tun, dass die rebellische junge Frau, die schon vor mehr als sechzig Jahren gewagt hatte, sich als Mutter eines Sohnes in einen neuen Mann zu verlieben und den Ehemann zu verlassen. Uta, die einen Männerberuf ausgeübt hatte und die eigentlich Modedesignerin werden wollte, weiß heute nichts Rebellisches mehr zu tun. Und so sitzt sie im Altersheim und starrt Löcher in die Luft.
Eva grübelt schon seit Wochen, wie sie ihrer Schwester im Geist helfen kann aus der unerträglichen Langeweile. Doch heute Abend, in dem langen Gespräch über Erinnerungen an frühere Leben und Initiationsriten für werdende Schamanen, hat sie plötzlich eine Idee: „Uta!“, ruft sie begeistert, „Weißt Du, was Du brauchst? Einen Fernseher! Einen Fernseher und FireTV!“
Uta überlegt. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Fernseher. Aber lesen tut sie auch nicht mehr. Dann brennen die trockenen Augen ganz schnell. „Brigitte hat einen Fernseher“, antwortet sie. „Das ist gut! Vielleicht kannst Du bei ihr schon mal ab und zu testen, wie Du Fernsehen findest. Und dann helfe ich Dir, super Serien zu finden, die genau zu Deiner Natur und Deiner Sehnsucht passen. Und dann ist Dir vielleicht nicht mehr langweilig“.
Georg starrt die beiden Seelenschwestern ein wenig entgeistert an. Fernsehen ist für viele Bewohner der Senioren-Waldorfeinrichtung weiterhin unter ihrem Niveau. Aber Löcher in die Luft starren? Was für eine deprimierend geisttötende Qual!
Blick in die Zukunft
Es wird noch einige Wochen dauern, bis Uta die Zustimmung gibt und Eva einen kleinen Fernseher mit Internetverbindung organisiert. Es wird danach noch etwas dauern, bis Uta gelernt hat, Netflix und Waipu zu bedienen und genau die Serien aufzuspüren, die ihr aus dem Himmel heraus von ihrer klugen Seelenfamilie zugeflüstert werden.
„The Walking Dead“ wird die erste sein. Shakespeare in der Zombiewelt – vier wunderbare Staffeln, bevor die Serie im Kommerz verkommt.
Eva und Uta haben nun immer viel zu besprechen:
1. Was zeichnet einen guten Anführer in Kriegszeiten aus – und was in Friedenszeiten?
2. Warum kann gerade die Frau, die von ihrem Mann über lange Zeit gedemütigt und misshandelt wurde und die zu Beginn der Apokalypse nur aus Angst bestand, nach dessen Tod und dem entsetzlich traumatischen Ende ihrer geliebten Tochter im Laufe der Serie zu der unerbittlichsten Kämpferin von allen werden?
3. Wie behält man Menschlichkeit in einer Welt, in der es keine Hoffnung mehr gibt? In der es nur noch darum geht, Stunde um Stunde zu überleben?
Irgendwann hält es Georg nicht mehr aus. Montag für Montag hört er die beiden Frauen tiefgreifende spirituelle Fragen anhand einer Zombie-Serie wälzen. Er kauft sich sogar selbst einen Fernseher mit Netflix-Zugang – doch er versteht einfach nicht, was man an „The Walking Dead“ Tiefsinniges finden kann.
Uta jedoch hat ihren Weg aus der unerträglichen Langeweile gefunden. Nun kann sie ihre Depression fruchtbar und kreativ in Fiktionen einbringen. Uta hat angefangen, Gedichte über die Sinnlosigkeit der Zeit zu schreiben.
Marion, die Künstlerin in der Runde – Typ Janis Joplin am Rollator – hat die ersten Gedichte von Uta bereits in große, surrealistische Aquarelle gekleidet. Für Farben und Leinwände haben die Frauen auf dem Bazar der Waldorfschule einige ältere Bilder von Marion verkauft. Trotz ihrer winzigen Renten lassen sie sich nicht durch die Alters-Grundsicherung einschnüren.
Bald wollen die Frauen eine Ausstellung mit Walking Dead Gedichten und Bildern organisieren. Brigitte übernimmt die Projektleitung. „Wir warten nur noch auf Eva“.