Eine der musikalischen Botschaften in meinem Leben, die mir einen Auftrag von oben gaben: „I just wanna fuck bad bitches“. 2001 war ich zweiundvierzig Jahre alt. Mutter mit vier Kindern von zwei Männern. Ich lebte in einer meiner biografischen Welten, die sich aufgereiht wie an einer Perlenschnur die Hände reichen bis heute.
Erstens: Kindheit in einem Aufbaudeutschland, in dem die verstörten Ex-Herrenmenschen, Ex-Kriegsteilnehmer und Ex-Untertanen versuchten, ihre Wunden in Alkohol zu ertränken. Die Welt der besiegten Überlebenden.
Zweitens: Die Zeit meiner erwachenden Selbstbestimmung, in der das verschüchterte Einzelkind in der Schule sich zur lästigen Querulatorin erhob. Politisch links, gegenüber Möchtegern Autoritäten rücksichtslos – voller Verachtung für Status und Geld.
Drittens wurde ich die, die als Erste schwanger wurde nach dem Abi. Die mit dem Vater der Kinder eine bettelarme Familie gründete und ignorierte, dass ihr geliebter Mann Medizin studierte.
Viertens die kurze Ehe als Frau eines Arztes, mit Einfamilienhaus und drei Kindern. Da war ich die, die diese Rolle nicht lange durchhielt und flüchtete vor Status und Geld.
Fünftens…
Und nun saß ich hier mit zweiundvierzig Jahren in meiner fünften Welt mit meiner pubertierenden Tochter E. in einem linken Treffpunkt voller Punks und Langhaariger, spielte Skat, rauchte und trank Bier aus der Flasche. Und dann geschah es
Aus den Lautsprechern ertönte eine Musik, die ich nicht kannte: Hip-Hop. Bisher hatten die Leute um meine Tochter E. auf den Partys und bei mir in der Küche immer Musik gehört wie Tarantinos Pulp Fiction, Ska, die Pogues…
Doch das, was da nun erklang, war anders, ganz anders.
Ich war wie elektrisiert. Mein Gedächtnis ist miserabel, aber an den Moment, als Dr. Dre’s Album 2001 aus den Sperrholzlautsprechern unseres Undergroundtreffpunkts ertönte, erinnere ich mich fast fotografisch genau. Diese Töne schienen nicht von Instrumenten zu stammen, diese ersten Klänge „Damm Damm Damm Damm – Damm“ waren weder Gitarre, noch Klavier, noch Synthesizer wie bei Tangarine Dream – sie waren kurz, direkt, als setze jemand einen Punkt:
„Damm“
Ich fragte verstört: „Was ist das?“ Und die jungen Leute erklären mir, das sei Hip-Hop, das sei Dr. Dre. Und diese Töne: Das seien Beats.
Mein Englisch ist miserabel, und Ghettoslang übersteigt meine Übersetzungsfähigkeit um Meilenlänge. Aber ich verstand die Schwingungen, und diese Schwingungen der schwarzen Jungs aus den Ghettos sollten mich nie wieder loslassen.
Da waren Jungs und auch Mädchen, die in ihrer Szene aus den Ghettos heraus einen künstlerischen Ausdruck fanden, der anklagte, ohne zu jammern. Der in Form dieser Hiphop-Beats nüchtern die Realität darstellte, ohne sich blenden zu lassen von falscher Hoffnung und dem Traum des amerikanischen Tellerwäschers. Es war eine heilige Zeit, eine große Zeit. Es war wie ein Schwur der Selbstachtung.
Heute früh noch habe ich nach ewig langer Zeit das nun vierundzwanzig Jahre alte Album von Dr. Dre auf dem Fußweg zur Arbeit gehört – auf dem Weg zum Jobcenter in der Nordstadt, eines der vielen Dortmunder Armutsviertel, in dem nur wenige Deutsche leben.
Ich durfte eine einunddreißigjährige Mutter von zwei Kindern kennenlernen, die 1994 im Krieg in Eritrea geboren wurde, im Alter von zwei Jahren als junge Waise irgendwie „mit irgendeiner Frau“ in den Sudan fliehen konnte, die dort mit zehn Jahren eine einjährige Ausbildung zur Köchin machte und ab dem zwölften Lebensjahr wohlhabenden Familien den Haushalt führte, die Kinder betreute, über mehrere Jahre zusätzlich noch eine Großmutter pflegte, die im Rollstuhl saß.
Zunächst im Sudan, später, mit sechzehn, in Libyen. Libyen im Krieg. „Das war schlimm“, erzählte sie mir. „Krieg macht die Menschen zu Affen. Jeder denkt nur noch an sich.“
Über ihre lange Flucht nach Deutschland will sie nichts erzählen. Das war zu schlimm, diese Erinnerungen. Die kleine Frau zeigt entschlossen mit ihrer erhobenen Hand „Stopp“. Diese Erinnerungen sind sicher verschlossen hinter Schloss und Riegel.
Da sitzt diese wunderschöne zarte Frau mit dem langen goldgelben, leuchtenden Kopftuch vor mir, die seit ihrem zweiten Lebensjahr keine schützende Liebe mehr erfahren hat. Die überlebte und die nun als Mutter zweier Kinder den Wunsch hat, eine Ausbildung zur Pflegehelferin zu machen. Ihr sehr gutes Deutsch hat sie sich selbst beigebracht.
Beim Abschied verneige ich mich tief vor ihr, der kleinen schwarzen Königin. Schüchtern lächelnd und doch verstehend verlässt sie mich – lässt jedoch für immer einen Teil von sich in mir zurück.
Tränen der Dankbarkeit und der Bewunderung steigen in mir auf. Wie herrlich ist doch diese Welt, die solche Helden hervorbringt!
Ehret die, die da ihr Kreuz tragen. Das Kreuz der Armut, das Kreuz der Verlassenheit, das Kreuz der Gewalterfahrung und das Kreuz des ach so mühsamen Überlebens.
Und nun sitze ich hier in der Schreibwerkstatt, lasse den heutigen Tag an mir vorüberziehen und tröste mich mit der Liedzeile von Dr. Dre:
„I just wanna fuck bad bitches“
Meine kleine, weise Königin hat einen anderen Weg gefunden, in Würde ihr Kreuz anzunehmen und ganz allein geduldig einen Schritt nach dem anderen zu tun aus Elend und Hoffnungslosigkeit. So anders als meine Hip-Hop-Künstler in ihrem aufrechten Widerstand gegen die Macht der Besitzenden.
Ich liebe beide Wege: die Wege des Kriegers und den Weg der Weisen. Danke, dass es Euch gibt, Danke