„Geh arbeiten!“ ruft ein Passant dem Bettler nach, der abgemagert mit nackten Oberkörper jeden Entgegenkommenden mit seiner Forderung nach einem Euro erschreckt und verscheucht. Eva geht weiter.
An der roten Ampel zum Bahnhof untersucht ein Mann hinter ihr den Abfallbehälter. Sie hört einen glücklichen Aufschrei. Sicher hat er eine Dose gefunden oder eine Flasche, die 25 Cent wert ist. Sie dreht sich um, will ihm gratulieren. Nein, es ist kein Pfandfund. Der Mann hält einen verschmierten Becher mit Fastfoodresten in den Händen.
Es ist brütend heiß. Am Bahnhof hat sie sich gewöhnt an die vielen Obdachlosen. Sie gehören dazu wie die Tauben, die nach Krümeln picken. „Füttern verboten“.
Bodensatz
Eva hat schon lange aufgehört, sich zu schämen. Vor wenigen Tagen, in einer anderen Stadt, Nähe des Luxuskaufhauses Breuninger, hatte ein dunkelhäutiger Mann sie verzweifelt angesprochen mit den Worten „Ich habe schon 39 Leute gefragt. Keiner gibt mir was!“. Auch sie ging mit einem bedauernden Lächeln weiter.
Eva erinnert sich. Heute früh im Coaching hatte sie ihre Klientin gefragt, was es noch zu tun gäbe, was ihr noch weiter guttun würde.
Es war so schön zu sehen, wie die junge, von Kindheit an tief traumatisierte Frau, in den letzten Wochen an Kraft gewonnen hatte. Als sie sich kennenlernten, klagte sie darüber, dass sie jeden Tag immer wieder grundlos weinen müsse.
Eigentlich hatten die Beiden nur sehr pragmatische Dinge erledigt. Behördenkram: Jobcenter-Fehlbescheid-Widersprüche, GEZ-Forderungen, Heizkostenerhöhung, Adresslisten von Traumatherapeuten zum Abtelefonieren ….
Heute sitzt eine hübsche ungeschminkte Frau vor ihr, die ihre Therapeutin gefunden hat, einen Minijob, ihr verlorenes Monatsticket ersetzt hat und die Wohnung geputzt. Eva ist voller Bewunderung. „Was kann ich denn überhaupt noch für Dich tun? Was gibt es, damit Deine Kraft weiter gestärkt wird?“
„Ehrenamt“, sagt diese. „Ich will einmal in der Woche ein Ehrenamt, vielleicht im Gast-Haus. Die tun was für Obdachlose“. Eva öffnet die Website. Beide starren fast andächtig darauf. Ein ökumenisches Projekt, mit Nahrung für Körper, Seele, Geist. „Gib mal das Telefon“, sagt die Klientin, die noch vor Wochen so unter ihrer quälenden Lähmung gelitten hatte. Sie ruft an, verabredet sich mit der Ehrenamtlichen-Betreuung für nächste Woche. Eva staunt, Ehrfurcht erfüllt sie.
Ja, Eva ist versöhnt mit ihrer Weigerung, den Armen Geld zu geben oder ihnen etwas zum Essen zu kaufen. Sie kauft sich lieber selbst etwas, als zu geben. „Selber essen macht fett“ ist ihr ins Gehirn geschrieben. Und doch ist sie zur rechten Zeit am rechten Ort.
Sie ist so stolz auf ihre Leute. Auf die, die in ihrer Einsamkeit anfangen, mit ihr zu reden. Die sich fühlen wie Jemand, der nach jahrzehntelanger Dunkelhaft ans Licht getreten ist. Sie ist so stolz auf die Verwirrten, die Misstrauischen, die Wütenden, die Abbrecher und die Bewegungslosen, die es schaffen, mit Öffis zu ihr zu fahren – zweimal in der Woche.
Und so setzt sie sich am Bahnhof zwischen die Heimatlosen, die in der Hitze etwas unangenehm riechen – und die diese unvergleichliche Würde ausstrahlen, die nur die Armut kennt. Sie ist glücklich. Sie ist da, wo sie hingehört.