Marie-Ann – Die Verstopfung

Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt
Marie-Ann ist ein fleißiges, gefügsames Ding. Sie passt sich stets den Umständen an. Schimpft jemand mit ihr, senkt sie den Kopf und gelobt, es nie wieder zu tun – was auch immer ihr vorgeworfen wird. Sie trägt über ihrem braunroten Arbeitskleid eine helle Schürze. Marie-Ann versucht stets, die Schürze sauber zu halten. Waschen kann sie nur im Waschbecken ihres Zimmers. Und eine zweite Schürze besitzt sie nicht.

Marie-Ann arbeitet in der Kantine des riesigen Verwaltungskomplexes der kleinen Stadt, in der sie lebt. Etwa zwanzigtausend Menschen arbeiten hier, und somit alle Arbeitsfähigen zwischen 14 und 75 Jahren, die in der Stadt leben.

Die zu Jungen und die zu Alten leben in staatseigenen Heimen. Kinder und Jugendliche werden in den Heimen herangezogen und auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet. Die Alten bleiben nicht lange. Ist ihre Arbeitskraft unwiederbringlich erloschen, werden sie zu Dosenfutter für Menschen oder Trockenfutter für die noch verbliebenen Nutztiere verarbeitet.

Marie-Ann arbeitet sieben Tage die Woche von morgens um sechs bis abends um 22 Uhr. Sie verrichtet alle Küchen- und Putzarbeiten, die ihr aufgetragen werden. Von 12 Uhr bis 12.30 ist ihre Pause. Dann darf sie sich in die Kantine setzen und ein heißes Getränk aus dem Automaten trinken. Ihr Essen muss sie sich selbst mitbringen. Meist ist es ein Glas aus dem Verkaufsladen im Verwaltungskomplex mit einem Gemisch aus Fleischextrakt und chemischen Zusätzen.

Pflanzen gibt es nicht mehr, das Mikroplastik aus den Gewässern der Erde hat nach und nach alles natürliche Leben erstickt. Nur Menschen und einige Nutztiere können in dieser Umgebung noch leben. Einen Himmel sieht man nicht mehr – es ist Tag wie Nacht dunkelgrau da draußen – unterschiedslos – Winter wie Sommer. Nur die Kälte nimmt zu im Winter.

Es ist 12 Uhr. Marie-Ann sitzt in der Kantine und trinkt ihr heißes Getränk. Es wird als Tee bezeichnet, ist extrem süß und farbig. Marie-Ann löffelt den Inhalt ihres Glases. Sie kaut langsam und konzentriert. Mehr wird sie heute nicht mehr essen können – so wie sie jeden Tag nur einmal isst – immer um 12 Uhr, immer in dieser Kantine, immer allein.

Eine Frau setzt sich Marie-Ann gegenüber an den Tisch. Marie-Ann erschrickt. Ihr Herz pocht wild. Seit Jahren hat ihr kein Mensch mehr in die Augen geblickt – und diese Fremde nun schaut sie unverwandt an. „Hallo, Marie-Ann!“ spricht die Fremde sie an. Marie-Ann wagt es, kurz hinüberzublicken. Immerhin kennt die Frau ihren Namen. Vielleicht ist sie eine Vorgesetzte.

Die Fremde leuchtet. Es klingt verrückt, aber es ist so. Sie leuchtet mit ihrem weißblonden Haar, ihrem strahlendem Gewand – sogar ihre Hände scheinen zu leuchten.

Die Fremde beginnt, Marie-Ann auszufragen. Sie hat einen schneeweißen Papierblock vor sich auf dem Tisch liegen und schreibt mit einem goldfarbenen Füllfederhalter auf, was Marie-Ann antwortet. Über das Leben hier, über die Arbeit, über ihre Perspektive (welche Perspektive?) und über ihre Wünsche (was für Wünsche?). Dann ist die Pause zu Ende.

Am nächsten Morgen wacht Marie-Ann um vier Uhr auf wie an jedem Morgen. Sie geht zum Waschbecken und dreht den Hahn auf – nichts passiert. Kein Wasser. In Panik schüttet sie das gebunkerte Wasser aus ihrem Topf in das Becken, nachdem sie das Becken mit einem Stopfen verschlossen hat.

Sie wäscht ihre Schürze aus, so gut es geht. Sie wäscht ihr Kleid unter den Achseln, eine andere Gelegenheit zum waschen der Wäsche als das Spülbecken hat sie nicht.

Marie-Ann muss jeden Morgen ihre notdürftig gereinigte Arbeitskleidung nass anziehen. Sie hat nur die eine Ausstattung. Auf dem Weg zur Arbeit trocknet das meiste. Im Winter ist es schlimmer, da ist es draußen kalt

Marie-Ann zieht nach der Handwäsche den Stopfen aus dem Abfluss – nichts passiert. Das Wasser bleibt stehen. Die Panik steigt. Was ist, wenn sich das Problem nicht von allein löst?

Einen Klempner zu bekommen, ist so gut wie unmöglich – abgesehen davon, dass Marie-Ann nicht genug Geld verdient, um ihn zu bezahlen. Sollte die Verwaltung des Wohnkomplexes merken, dass ihre Wasserstelle in dem 9-Quadratmeter-Zimmer verstopft ist, würde man das Zimmer räumen und sie in eines der gefürchteten Heime für verwahrloste Frauen stecken. Das Problem einfach zu verheimlichen, war unmöglich. Sie brauchte doch die Wasserstelle! Die Toilette teilten sich zehn Mietparteien auf dem Hausflur, doch Wasserstellen gab es nur auf den Zimmern.

Marie-Ann probiert noch so einiges, bevor sie in letzter Minute zu ihrer Arbeitsstelle eilt. Sie ist völlig verzweifelt, zittert, kann kaum laufen, ist annähernd orientierungslos vor Angst.

Bloß nicht in so ein Heim für verwahrloste Frauen! Manchmal sieht sie einige der Insassinnen draußen in ihren Rollkommandos. Sie tragen graue Kittel und graue Kopftücher und müssen all das tun, was sonst keiner tun will. Sie sind abgemagert, die Gesichter leer, um ihre Füße tragen sie Fußketten

Marie-Ann wird zurechtgewiesen, weil sie zehn Minuten zu spät am Arbeitsplatz ist. Sie wird beschimpft, weil noch Reste vom Soßenfleck auf der Schürze sind. Sie wird verhöhnt, weil sie nicht sorgfältig genug das Kleid unter den Achseln gereinigt hat. Marie-Ann stinkt.

Nach einem grausamen Vormittag unter dem Gebrüll und höhnischen Gelächter der Mannschaft sitzt Marie-Ann um 12 Uhr erneut am Tisch. Ihr Glas Essbares hat sie in der Aufregung zu Hause vergessen. Mit bebenden Händen trinkt sie ihr süßes, farbiges Heißgetränk.

Die Fremde sitzt plötzlich wieder vor ihr und schaut sie an. „Was brauchst Du?“, fragt sie ernst. „Einen Klempner“ flüstert Marie-Ann. Tränen rinnen ihr die Wangen hinunter. Die Fremde streichelt ihr sanft über die Hand, die eiskalt auf dem Kunststofftisch liegt und über die Finger, die nervös zucken. „Morgen früh um vier Uhr ist er bei Dir. Und ich werde auch da sein“

Die Fremde steht auf und geht. Ihr Strahlen ist noch lange sichtbar, nachdem sie den riesigen Saal verlassen hat.

Am nächsten Morgen geht alles ganz schnell. Um vier Uhr klopft es an der Tür, und Mario, der Klempner aller Klempner ist da. Mit Schnurrbart, Kappe, Latzhose, mit Mut und Humor. Marie-Ann kennt den Film Brazil nicht – und doch spürt sie, dass hier etwas ganz Geheimnisvolles passiert.

Mario zieht aus seinem Werkzeugkoffer eine lange Spirale und einen Motor, der die Spirale antreibt, sodass diese sich dreht und immer tiefer in das Abflussrohr dringt. Irgendwann gibt es ein lautes gurgelndes Geräusch – und die Verstopfung ist beseitigt. Marie-Ann lacht und klatscht in die Hände.

Die Fremde kommt. Sie hat heißen Kaffee in einer großen Thermoskanne mitgebracht – und köstliche Butterbrote mit Schinken, Käse und Remoulade. Die Drei essen zusammen, trinken aus Pappbechern den herrlichen Kaffee und Mario und die Fremde erklären Marie-Ann, dass sie mit einem Zeitmaschinen-Auto aus der Vergangenheit hierhergekommen sind – in eine Zukunft siebzig Jahre nach ihrer Zeit. Heute ist das Jahr 2094 – die Frau und Mario leben im Jahr 2024.

Nach dem Frühstück brechen die Drei auf. Die Fremde, die Claudia heißt, und Mario nehmen Marie-Ann in ihre Mitte. Ihr knallrotes Auto parkt unter einer hässlichen, verschmierten Decke in einem Hinterhof. Mario zieht den schmutzigen Lappen ab, die kleine Gemeinschaft setzt sich in die gemütlichen Polster – und Claudia bedient die Zeitschaltuhr.

Und so erfährt Marie-Ann, dass es noch andere Leben gibt, andere Zeiten, andere Möglichkeiten. Sie wird im Jahr 2024 eine glückliche Frau sein. Und wenn einmal ihr Abfluss verstopft ist, wird sie sich freuen. Weil – dann ruft sie Mario an, den Klempner. Und Claudia kommt dann auch und sie trinken Kaffee und essen Butterbrote mit Schinken, Käse und Remoulade.

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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