Max lebt in RheinRuhr, der größten Metropole auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschlands. RheinRuhr ist eines der internationalen Zentren der Entwicklung, Steuerung, Verwaltung und Überwachung von Energie und Infrastruktur. In enger Kooperation mit zwei weiteren Infrastrukturmetropolen auf der Erde, drei Weltall-Satellitenstationen und einer Station auf dem Mars – bildet das KI-basierte Energiesteuerungssystem eine eigenständige logistische Grundlage der Erde, von Maschinen gesteuert, biologisch belebt.
Max und das Jahr 2076
Max ist der Sohn einer deutsch geprägten Familie. Nach dem 1. Weltkrieg kamen seine Vorfahren aus ländlichen Regionen ins Ruhrgebiet, um durch ihre Arbeitskraft dem Tod durch Verhungern zu entgehen.
Man heiratete untereinander, erlebte gute Zeiten, schlechte Zeiten – war den mächtigen nackten Kaisern ausgeliefert, wie die Arbeiterklassen überall auf der Welt. Man schlug sich durch, so gut es eben ging.
Die menschliche Bevölkerung hatte sich im digitalen Zeitalter in zwei Klassen aufgespalten: Die Arbeitenden und die Arbeitsfreien. In RheinRuhr betrug der Anteil der Arbeitenden etwa dreißig Prozent. Diese dreißig Prozent wiederum teilten sich auf in die Tagelöhner, die in ihrer Arbeit effizienter oder kostengünstiger waren als Maschinen, und die Dienenden, die den Maschinen zuarbeiteten. Das waren die Beamten mit den entsprechenden Versorgungsprivilegien.
Max war Auslieferungsfahrer. Durch seinen Job lernte er unzählige Menschen kennen, denen er die Waren an die Tür brachte. Manchmal baten sie ihn herein und man plauderte.
Zurück zur Privatsphäre
Die strenge Überwachungspolitik hatte noch vor einigen Jahren auch die privatesten Lebensräume umfasst, doch das war aufgehoben worden, da die Menschenrasse durch diese allumfassende Kontrolle auszusterben drohte. Vor allem psychische Erkrankungen mit ihren körperlichen Folgen stiegen so sehr an, dass die biologische Balance auf dem Planeten zu kippen drohte.
Maschinen rechneten aus, dass ein Planet ohne Menschen den baldigen Untergang nach sich ziehen würde. Aus dieser Erkenntnis heraus errechnete die maschinelle Intelligenz ein System, das den Menschen in seiner biologischen Unversehrtheit respektierte – ja, sogar unterstützte.
Die Geburtenrate war um 30 Prozent gesenkt worden, was unauffällig und friedlich vonstattenging – frei von kriegerischen Auseinandersetzungen, Epidemien, Hungersnöten, Massensuiziden – stattdessen mit einem wirkungsvollen Einfluss auf die menschliche Fertilität – die Fähigkeit, sich fortpflanzen zu können.
Max führte ein herrliches Leben. Da die Zahl der Arbeitswilligen sich von Jahr zu Jahr weiter reduzierte, waren die Arbeitsbedingungen für die wenigen Arbeitsbereiten perfekt. Seine Lieferaufträge passten sich seiner Arbeitsweise an. Verweilte er bei einigen seiner Kunden in ihrem abhörgeschützten Privatbereich länger, wurde für den nächsten Tag automatisch der Lieferauftragsplan angepasst.
Da er arbeitete, hatte Max wenig Konsumbedarf – er hatte keine Zeit, sich den unzähligen Zerstreuungsangeboten für die 70 Prozent Arbeitsfreien hinzugeben. Er wollte viel erleben, wollte Herausforderungen, wollte sich bewegen, wollte etwas lernen, wollte Menschen kennenlernen, Menschen verstehen. Schönes Leben.
Max gehörte zu einer weltweit wachsenden Gruppe, die sich die „Klarheits-Sucher“ (Clarity-Seekers) nannten. Beim universellen maschinellen Steuerungsrat hatten sie bewirkt, dass sie sich abhörfrei treffen und vernetzen konnten. Einmal im Monat sendeten sie ein Protokoll ihrer Ergebnisse an die befreundeten Gruppen und das maschinelle Regime – dieses wiederum übertrug eigene Analysen und Strategievorschläge an die Gruppen.
Der Vereinigung war es gestattet, über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg überwachungsfrei zu kommunizieren. Für freie Kommunikationskulturen waren eigenständige Infrastrukturen aufgebaut worden aufgrund der errechneten Befürchtung: Stirbt der Mensch, stirbt der Planet.
Projekt Menschheits-Pflege
Die Clarity-Seekers waren eines der Projekte der globalen „Menschheits-Pflege“: Es galt herauszubekommen, auf welchen Grundlagen die Aussage des unverzichtbaren Menschen basierte. Was war das Besondere am Menschen? Warum war er unersetzlich? Was unterschied ihn so grundlegend vom Säugetier?
Welche Ausstrahlung des Menschen führte dazu, dass die Erde belebt war und den wunderbaren Kreislauf von Geburt und Tod, Erschaffung und Zerstörung, Überfluss und Mangel so meisterlich im Gleichgewicht hielt? Warum ging es nicht ohne ihn? Oder war die Berechnung falsch?
Zu den Klarheitssuchern kamen nicht nur Menschen aus der Arbeiterklasse, auch Natur- und Geisteswissenschaftler, Mediziner und Lehrer sowie Künstler waren dabei – und sogar einige Arbeitsfreie. Beamte hingegen waren ausgeschlossen, da sie eng in das Steuerungs- und Überwachungssystem eingebunden waren.
Das Ergebnis
Klarheitssucher und Maschinen brauchten einige Jahre, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Max war im Team der Interviewer.
Bei seinen Hausbesuchen als Lebensmittellieferant fand er heraus, dass es viele Menschen gab, die in Folge der KI-gesteuerten Anordnungs-, Manipulations- und Propaganda-Allmacht zu einer völlig neuen Selbstwahrnehmung kamen. Die Befreiung von Vertrauen in Autoritäten führte dazu, dass die Menschen sich von einer ganz anderen Seite kennenlernten. Sie empfanden sich mehr und mehr als Avatar.
Die Beschreibungen des Phänomens unterschieden sich enorm. Häufig klangen die Schilderungen ungelenk, unbeholfen, kindlich – und doch blieb der Kern immer gleich: Menschen fühlten sich wie eine virtuelle Marionette, die von einem unsichtbaren Spieler durchs Leben geführt wird. Sie fühlten sich einschließlich ihrer Körperlichkeit, ihrer Gefühle, Sinneseindrücke, ihrer Ängste und Lust wie das Haustier eines Geistwesens – oder besser gesagt: Wie das Reitpferd eines übermenschlichen Bewusstseins, das sie selbst waren.

Der Spieler und sein Avatar
Ein alter Mann brachte es einmal bei einem gemeinsamen Fläschchen Bier auf den Punkt: „Weißt Du Max, der Puppenspieler, das ist mein Bewusstsein, mein Selbst. Ich hier unten bin der Charakter, so wie ein Avatar bei World of Warcraft. Er bestimmt unsere gemeinsamen Abenteuer und Aufgaben – ich führe sie aus, so gut ich es vermag. Und weißt Du was? Ich glaube, dieses mein Selbst ist nicht allein – da oben ist eine ganze Familie, die sich um mich kümmert. Lauter spannende Typen. Sozusagen die Gilde meines Puppenspielers. Es ist fantastisch.“
Natürlich gab es noch viele andere Sektionen bei den Clarity-Seekers, die der Ursache „Warum würde die Erde untergehen, wenn es keine Menschen gäbe?“ auf die Spur kommen sollten: Wissenschaft, Kunst, Pädagogik, Psychologie…
Letztendlich kam man zu dem Schluss, dass die energetischen Schwingungen, die das System „kosmische Kommunikation“ erzeugten, als Grundlage des biologischen und klimatischen Gleichgewichts auf der Erde anzusehen waren.
Würde es den Menschen nicht geben, wäre die Erde innerhalb weniger Generationen ein rundes, verwahrlostes Terrarium ohne Wände – das Ergebnis von „Die Großen fressen die Kleinen“. Die Erde wäre ein Unkrautplanet – so attraktiv wie eine Messiewohnung, die vor sich hin gammelt. Die Maschinen würden ebenso verrotten wie Fauna und Flora.

Ohne die menschlichen Avatare, die hier sind, um Erfahrungen zu sammeln, zu gestalten und zu lernen, aus dem Guten wie aus dem Bösen, wäre Mutter Erde in nullkommanix ein grün überwucherter Müllhaufen aus darwinistischer Skrupellosigkeit.
Kurz und gut: Laaangweilig, ohne Menschen könnte die Erde für Weltall-Transportwege gesprengt werden. Es wäre egal.