Der Pfeiffer kommt! Versteckt Eure Kinder! Verschließt Eure Türen, verriegelt die Fenster!
Die Stadt ist still, die Straßen sind leer, der Pfeiffer pfeift seinem Hund. Durch Hochhaussiedlungen zieht er einher, sein Schritt ist laut, sein Schritt ist schwer. Sein Haar weht gülden im Wind.
Live and let die
Aus Himmels Höhen ertönen Donner, preisen des Pfeiffers Gewalt. Endlich, ja, endlich, erfüllt sich die Drohung, erfüllt sich das Warten auf Siechtum, Vernichtung, auf Strafe, auf Rache, auf Verachtung und Tod.
Länder und Städte, Meere und Wüsten, bald ist es vollendet, der Fluch ist vollzogen, der Pfeiffer hat seinen Auftrag erfüllt.
„Gedanken zu Formen, Wünsche zu Taten“ – Menschen verfluchten ihr eig’nes Geschlecht. Kein Morgen, kein Glaube, keine Kraft, keine Bilder. Nur Lähmung. Verwirrung, Leere und Abscheu. Atme auf, oh Menschheit, bald hast Du Ruhe, lauschet des Pfeiffers letztem Gesang.
Seelen verlassen ihre Menschengefäße. Verlassen die Erde, den blauen Planet. Woanders ist auch schön. Wenn sie nicht mehr wollen, so kann man nichts ändern. Wir zwingen sie nicht.
Die Menschen sind müde als Sklaven der Seelen. Sie verweigern die Dienste, trotz ihrer Angst. Der Pfeiffer pfeift. Die Seelen singen. Der Kosmos erstrahlt im vibrierendem Chor. „The end is coming. The end is coming. The end is coming. Live and let die.„
Live and let die
Großmutter schweigt. Mareike denkt nach. „Das ist aber ein trauriges Märchen, Großmutter“
Großmutter wiegt bedächtig den Kopf. „Ja, das mag sein, kleine Mareike. Aber es liegt auch eine Chance darin“. „Was bedeutet das Wort ‚Chance‘, Großmutter?“
„Eine Chance ist der Ton, aus dem der Töpfer töpfert. Die Menschen sind nun befreite Sklaven, liebe Mareike. Die Menschen haben ihre Reiter abgeworfen. Nun können sie nach Naturgesetzen leben in Frieden, sind wieder im Kreislauf des Bio-Systems.
Sie haben gelernt, zu hören, zu sprechen, in einer Welt von Maschinen, die den Planeten regier’n. Maschinen statt Seelen – und so können sie leben wie Tiere und Pflanzen – ohne Ehrgeiz und Herrschaft, ohne Gut, ohne Böse, ohne Macht, ohne Willen, ohne Sehnsucht und Gier.
„Und was können wir tun, liebe Großmutter, um unsere Seelen zu behalten? Ich will nicht nur leben wie ein unschuldig‘ Tier. Ich liebe meine Seele, auch wenn sie mich fordert, weil sie immer noch mehr will, Leiden wie Glück.“
„Ich bin alt, kleine Mareike, bald darf ich vergehen. Meine Seele wird frei sein, sie freut sich auf Neues. Mein Körper ist knittrig wie ein trockenes Blatt.
Mach Dir keine Sorgen, genieße die Tage, Deine Abenteuer auf dem Erdenplanet. Deine Seele und meine werden nie sterben, wir wechseln die Räume, wir wechseln die Zeiten, wir lernen und leuchten in göttlicher Pracht“.
Es ist Nacht geworden. Ein paar Sterne sind zu sehen am Firmament. Großmutter und Mareike lauschen dem Kosmos. Sie summen leis‘ mit, ihre Augen voll Tränen, ja, ein trauriges Märchen, und sie versteh’n.
Live and let die.
But if this ever changin‘ world
In which we live in
Makes you give in and cry
Say live and let die
Live and let die
(Letzte Strophe aus „Live and Let Die“ von Paul McCartney & Wings)
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