Wann hatte es begonnen? Bernadette kann sich nicht erinnern. Sie weiß noch, wie sie als Mädchen ihrer kleinen Schwester den Tod gewünscht hatte. Sie hatte oben auf dem Treppenabsatz gestanden und zugesehen, wie das „ach, so niedliche“ Krabbelkind sich der obersten Stufe näherte. Ganz genau hatte sie sich ausgemalt, wie sie mit einem einzigen Fußtritt ihr größtes Problem beseitigte. Sie stellte sich vor, wie das Baby die Treppe herunterpolterte, der Kopf immer wieder auf die Stufen aufschlug, wie es schrie und schließlich tot unten am Fuß der Treppe liegenblieb. Wie sie, Bernadette, rasch in ihrem Zimmer verschwand, bevor die Mutter kam. Bis heute fragt sie sich, was sie damals an ihrer Tat gehindert hatte. Es war so eine einmalige Chance gewesen!
Später breitete sich die lodernde Flamme des Hasses in ihr immer weiter aus. Es war ein herrlicher Kick, Hass zu empfinden. Gern suchte sie in Gesprächen mit anderen Menschen nach Gelegenheiten, diese lodernde Flamme gemeinsam anzublasen. Hass auf die Nachbarn, die ständig gegen Regeln verstießen, Hass auf die verzogenen Blagen, die im Zug mit ihrem Geschrei die Passagiere nervten, Hass auf die Personen, die in den Nachrichten vorgestellt wurden: Kinderschänder, Tierquäler, Sozialschmarotzer, Messerstecher, Politiker, Querulanten. Hass auf die aufmüpfige Jugend, Hass auf die jammernden Alten, Hass auf dämliche Autofahrer, Hass auf Chefs und Kollegen.
Das, was Bernadette mit ihren Mitmenschen am meisten verband, war die Lust am gemeinsamen Hass. Es fühlte sich ekstatisch an, gemeinsam zu hassen und sich die schlimmsten, ekligsten Strafen für Kinderschänder, Sozialschmarotzer und Politiker auszumalen. Ja, Hass brauchte Gleichgesinnte. Das herrliche Gift konnte nur dann berauschend wirken, wenn es sich in geteilter Lust ausbreitete. Allein und in der Stille verstärkte Hass das Gefühl von Ohnmacht, Ungerechtigkeit und Kränkung, machte einsam und tat weh. In einer Gruppe Gleichgesinnter machte Hass stark, wild, unbesiegbar. Gemeinsam wurde denkbar, den Genuss der fantasierten Tat zu realisieren. „Hängt sie höher!“
Doch nun liegt Bernadette da, unten an der Treppe, und es wäre zu spät für Reue und Umkehr. Vor wenigen Stunden hat sie anscheinend so etwas wie einen Schlaganfall gehabt, als sie die Wendeltreppe in ihrem Haus hinuntergehen wollte. Vielleicht war es auch etwas anderes gewesen, wie sollte sie das wissen? Tatsache war, dass sie nun unten liegt, sich nicht bewegen kann und auch nicht sprechen.
Unzählige Bilder sind während des Sturzes an ihr vorbeigerauscht, und alle Bilder drehen sich um dieses eine blöde Thema. Hass auf dies, Hass auf das, böse Wünsche für dieses, böse Wünsche für jenes. Was soll das? Bernadette liegt reglos da und hasst, dass sie so malträtiert wird von diesem Wust an Vorwürfen. Ihre Hilflosigkeit wird gnadenlos ausgenutzt von etwas, was sich jetzt anscheinend hervortraut aus dem Unterbewusstsein. „Lass mich in Ruhe!“, schreit sie stumm in ihrem Kopf, doch niemand gehorcht. Ihre lebenslang empfundene Ohnmacht hat ihren Zenit erreicht. Nichts mehr kann sie trösten. Alles, was noch bleibt, ist die panische Angst vor dem Tod.
Am nächsten Morgen ist Bernadette tot. Ihre Tochter findet sie einige Wochen später, nachdem sie immer wieder vergeblich versucht hat, anzurufen. Es ist Hochsommer, und der Anblick, der sich der Tochter bietet, ist unschön. Der Gestank ist so schlimm, dass sie sich erbrechen muss neben der toten Frau. Hätte sie geahnt, dass eine wochenlang verwesende Leiche sie erwartet, hätte sie ihren Mann geschickt, nach der Mutter zu schauen. Doch nun ist es zu spät. Sie würde diesen gräulichen Moment nie wieder vergessen können.
Die Tochter verkauft das elterliche Haus, nachdem es von Expertenteams zu horrenden Kosten gereinigt worden ist, so rasch wie möglich. Eigentlich hatten sie und ihr Mann hier einziehen wollen, wenn die Mutter gestorben war. Doch daran ist nun nicht mehr zu denken. Schade um die herrliche Lage und das große Grundstück! Schon vor fünfzehn Jahren hatte die Mutter das Eigentum an ihr Kind überschrieben, um es vor dem Zugriff des Staates zu schützen bei Pflegebedürftigkeit. Die Beerdigung ist in aller Stille erfolgt.
Bernadette ist indessen frei – ihre Seele ist frei. Von oben schaut sie auf das Treiben da unten und lächelt. Keine Ahnung, warum sie so unbedingt ein Menschenleben in Kränkung, Hass und empfundener Ungerechtigkeit ausgesucht hatte. Aber so ist das nun mal auf dem Schulungsplaneten Erde. Man sagt, die Engel bewundern die Menschen dafür, dass sie sich auf die Erde trauen. Bernadette heißt jetzt nicht mehr Bernadette. Und alles ist gut.
Eva Ihnenfeldt am 2. September 2023