Es ist Abend. Die Feuer vor den Hütten leuchten und knistern. Die Männer sitzen beieinander und diskutieren den Krieg. Die Frauen und Kinder sind in kleinere Gruppen aufgeteilt. Einige Gruppen fertigen Kleidung, andere verarbeiten Nahrungsmittel, wieder andere binden Besen oder flechten Körbe.
Manchmal sehen einzelne Dorfbewohner hinüber zum Waldrand. Auch da brennt ein Licht. Miriam lebt dort allein in ihrer Hütte. Miriam ist anders als die anderen. Schon als Kind war sie anders. Die Alten erinnern sich. Was man auch probiert hatte, Miriam war unerziehbar. Sie war das personifizierte, große „Nein“.
An vielen Abenden gehen einzelne Dorfbewohner zu Miriams Feuer, setzen sich zu ihr und erzählen von ihren Sorgen, Ängsten, Zweifeln. Miriam hört einfach zu, lässt Stille Stille sein, bestätigt nicht, beurteilt nicht, lässt all das zu, was da ist. Sie nimmt an, was man ihr gibt, verlangt aber nichts. Sie lässt es still geschehen.
Es gibt noch eine zweite Frau, die im Dorf geboren wurde, doch nicht mehr im Dorf lebt: Lilith. Lilith erscheint den Dorfbewohnern wie ein böser Geist, ein Phantom, eine lauernde Gefahr.
Lilith hat damals ihre Kinder zurückgelassen, als sie verschwand. Sie lebt tief im Wald, aber nicht allein. Immer mal wieder stehlen sich Männer oder Frauen aus der Gemeinschaft – viele nur für einen Abend, manche kehren nie zurück.
Man nennt diese Abtrünnigen „Die Sehnsüchtigen“. Sie schleichen sich hinaus zu Liliths Bande, die es sich in den Tiefen des Waldes gutgehen lässt. Man jagt, man übt sich in Kriegskunst, man lacht, spielt und feiert. Liliths Leute entscheiden für sich, wann sie schlafen, essen, arbeiten. Sie haben keine Gesetze, außer dem einen:
„Du bekommst, was Du verdienst.“
Jeder hat etwas beizutragen zum Wohl des Ganzen. Im Laufe der Jahre ist die Waldgemeinschaft gewachsen. Frauen haben Kinder bekommen, versorgen die Gruppe mit Zuneigung, Nahrung, Fürsorge, Erziehung, Heilung. Frauen sind die Grundlage des Friedens, des Wohlergehens und der Kraft. Männer entdecken technische Zusammenhänge, entwickeln, experimentieren, konstruieren, verbessern, erschaffen. Männer sind die Grundlage des Fortschritts.
Nichts ist umsonst in Liliths Gemeinschaft. Jeder hat etwas Wertvolles beizutragen: auch die Kinder, die Alten, Gebrechlichen, Versehrten.
Glücklichmacher gibt es, Komödianten, Künstler, Geschichtenerzähler, Trolle, Verteidiger, Störenfriede und Richter. Es kommt nicht darauf an, welch messbaren Wert Deine Gabe hat – es kommt nur darauf an, dass Du Nehmen und Geben als moralisches Grundgesetz in Dir trägst.
Geschenke sind verboten. Die Gemeinschaft sieht Geschenke als Bestechungsversuch. Ehrlichkeit und fairer Handel sind Grundlage des Systems. Nehmer sind ebenso verpönt wie Geber. Fair muss es ein. Dann funktioniert es auch.
Miriam und Lilith sind Freundinnen. Oft gehen sie gemeinsam spazieren, diskutieren Konflikte, Gefahren, Stillstand. Sie lachen viel. Aus ihren Augen sprüht die pure Lebensfreude. Sie finden Lösungen – immer. Weil sie an Lösungen glauben. Weil sie an uns Menschen glauben.
Die Dorfbewohner schätzen sich glücklich, dass alles so ist, wie es ist. Auch wenn immer wieder Tränen vergossen werden, weil ein Mann oder eine Frau zu Lilith ausgewandert ist. Der Verlust wird akzeptiert.
Die Querdenker, Grundzweifler, Unerziehbaren und Störenfriede sind gut aufgehoben in Liliths Bande. Die Wilden lernen eifrig Jagd- und Kriegskunst, die Trotzigen, Gelähmten und Resignierten verstehen mit der Zeit, dass man geben muss, um zu erhalten. Und dass nichts mehr Freude macht, als zu geben. Fairer Handel ist Würde, fairer Handel ist die Mutter des Stolzes – der Gewissheit, Großes zu leisten.
Miriam lebt in einem alles durchdringenden Mitgefühl. Sie könnte die ganze Welt umarmen, so glücklich machen sie Menschen, alles Lebendige, dieser unfassbar schillernde Planet. Ihr ist gleichgültig, ob sie etwas bekommt für das, was sie gibt. Sie ist gar nicht in der Lage, zu erkennen, was sie gibt, so selbstverständlich ist ihr Tun.
Geschenke nimmt sie freudig an, ohne zu hinterfragen. Ist ein Geschenk mehr Belastung als Wert, gibt sie es dankbar dem Schenkenden zurück und sagt „Danke schön! Ich bin sicher, Du findest den Richtigen für Dein Geschenk. Ich bin es allerdings nicht.“
Lilith ist streng, Lilith zählt genau mit, was genommen wird und was gegeben. Lilith hat kein Problem mit Bettlern, Politikern und Schacherern – doch sie hat ebenso kein Problem damit, diese ins Dorf zurückzuschicken. Sie ist klug genug, um Anfänge von Machthunger zu erkennen. Sie hat nichts gegen Machthungrige, aber sie schickt sie zurück ins Dorf. Keine Begründung, keine Verhandlung, einfach nur ein großes „Nein“.
Das große „Nein“
Lilith und Miriam verbindet die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen. Lilith und Miriam verbindet die Fähigkeit, allein sein zu können – ihre Einsamkeit zu genießen. Lilith und Miriam verbindet, dass sie den Tod, den Meister des Endes, zum Freund haben. Sie erwarten ihr eigenes Sterben freudig gelassen – und sie können jedem Menschen seinen Lebensabschied vom Planeten Erde von Herzen gönnen.
Miriam ist die liebende Güte, Lilith die berechnende Marketenderin. So unterschiedlich sie sind, so sehr ergänzen sie sich wie Sonne und Mond.
Lilith ist meine Eva, Miriam meine Maria. Kann man glücklicher sein als ich? Ich glaube nicht.
Eva-Maria Ihnenfeldt, geborene Diermann, am 10. Februar 2024