Kurzgeschichte: Ein sinnbefreites Leben

Eva Ihnenfeldt: Magda erwachte. Irgendetwas war anders, war neu. Sie griff, wie jeden Morgen, zum Smartphone, schaltete den Wecker ab und scrollte zum wach werden ein wenig durch Facebook.

Nicht das, was sie dort sah, war anders als sonst. Das „Anders“ war in ihr drin, es war das, wie ihr Kopf zu ihr sprach: ‚Es ist ok. Ich lasse alles zu. Alles Jacke wie Hose. Es gibt nichts zu tun. Prima, Feierabend zu haben. Ich bin zufrieden‘

Magda war ein wenig gruselig. Es fühlte sich an, als hätte etwas Außerirdisches von ihrem Gehirnapparat Besitz ergriffen. Oder als hätte man ihr über Nacht eine KI eingepflanzt, die nun wertungsfrei und ungerührt die Welt akzeptierte, ganz so, wie sie war.

Magda stand auf, frühstückte, fuhr zur Arbeit. Im Zug erfreute sie sich an den vielen Menschen ‚Alles so schön bunt hier. Alles so schön lebendig!‘ Die Frau ihr gegenüber schimpfte, weil jemand im Wagen geniest hatte. Sie fühlte sich anscheinend bedroht. Magda staunte über die große Angst vor Infektionen. Danach sprach die Frau sie an, ganz so, als ob ein vertrautes Band die Beiden verbände. Sie erzählte von der Höhe ihrer Rente (1.000 Euro nach 42 Jahren Heilerzieherin), von ihrer Krebserkrankung, von ihrer Freude daran, sich nun, mit 65 Jahren, in jeder Form kleiner gesetzt zu haben (38 qm, kaum noch Konsumwünsche). Magda hörte staunend und dankbar zu. Sie trennten sich erst, als sie in der Stadt verschiedene Richtungen einschlagen mussten.

Heute hatte Magda einen neuen Fall zu begleiten, eine Familie mit einem seelisch und kognitiv belasteten Kind. Zunächst war Magda im gewohnten Modus, war wachsam gegenüber den Aussagen der Eltern. Der Junge schien zu leiden und sich darüber zu freuen, dass sich da eine fremde Frau mit ihm beschäftigen wollte, mit seinem Leben

Magda dachte an die vielen Erwachsenen, die sie seit Jahren begleitete in deren Belastungen und Leiden. Konnte sie auch das Leiden eines Kindes annehmen, ganz so, wie es ist? Konnte sie akzeptieren, dass es keinen Sinn hinter den Gefühlen, Sehnsüchten, Schmerzen und Taten der Menschen gibt? Dass das Leben ganz einfach so ist, wie es ist?

Etwa hatte Besitz von ihr ergriffen in dieser Nacht. Und sie wusste, dass es nie wieder weggehen würde. Magda lächelte. Sie fühlte sich ein wenig wie Data aus der Serie Star-Treck. Sie genoss ihr kindliche Staunen über die Menschen, diese neue Freude am Leben – ganz so wie es war. So ganz ohne Wertung…

Ihr war plötzlich gleichgültig, wie ihr Leben weitergehen würde. Es war nun mal passiert. Egal, wie es weitergehen würde, es war OK für sie. Wer nichts mehr zu erreichen hat, hat auch nichts mehr zu verlieren. Alles, was sie dachte, war dieses staunende ‚Ach, ist das so?‘ Trotz dieser Veränderung hatte sie weiterhin das Bedürfnis, ihr Bestes zu geben mit dem, was sie zu geben hatte. Merkwürdig… Aber auch das erinnerte sie an Data. An den Androiden, der aus purer Neugierde so gerne Mensch wäre, der so gern verstehen würde, wie sich Leidenschaft anfühlt.

Während Magda sich ganz langsam daran gewöhnte, anders geworden zu sein, feierte Magdas Seelenfamilie diese neue Wahrnehmungsfähigkeit. Ja, das Leben als sinnbefreites Vollkommenes zu verstehen, war der nächste Schritt zur auflösenden Liebe – zu all dem, was da ist.  ‚Alles Gute, liebe Magda‚ wisperten sie ihr unhörbar zu. ‚Wir sind bei Dir. Danke für alles. Danke dafür, wie Du auch uns befreist‚.

Und Magda erwachte von nun an jeden neuen Morgen mit der Vorfreude auf das, was das Abenteuer Leben für sie bereithielt. Das kindliche Staunen des Androiden Data sollte sie bis zu ihrem letzten Atemzug nie wieder verlassen.

Nachtrag – Data:

Data sitzt auf einer Bank – Gleis 1. Er nimmt die Welt um sich wahr: angstfrei, glaubensfrei, wertungsfrei, leidenschaftslos. Und doch durchströmt ihn ein Grundrauschen an machtvoller Liebe. Warum bloß?

Data lebt gern, ja, er hängt am Leben. Vielleicht kann man sein Grundrauschen vergleichen mit dem, was viele tödlich Erkrankte beschreiben: „Genieße all das, was Du mit Deinen Sinnen wahrnimmst. Nicht mehr lange, und es ist für immer – zumindest für sehr lange Zeit – vorbei“

Hören dürfen, riechen dürfen, fühlen, sehen, schmecken dürfen. Data weiß, seine Zeit auf Erden ist endlich. Auch Androiden erwartet der Tod.

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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