Christine sitzt – wie an jedem Ersten des Monats – im Zug nach Düsseldorf. Sie strickt und sie denkt. Unter ihrem Pulli trägt sie einen Brustbeutel, der bald gefüllt sein wird. Es gibt nur noch eine Bank in Nordrhein-Westfalen, bei der man sich Bargeld auszahlen lassen kann. EU-weit ist alles auf digitalen Zahlungsverkehr umgestellt worden. Bargeld wurde zwar noch nicht verboten, doch Geldautomaten gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Sie wurden nach und nach abgebaut – angeblich, weil sie so oft von Kriminellen gesprengt wurden.
Geschäfte nehmen weiterhin Bargeld an. Wenn das nicht mehr ist, haben Christine und ihre Freundinnen ein Problem. Dann können Sie ihren Widerstand gegen das allumfassende Digitalsystem nicht mehr aufrechterhalten. Dann sind sie gezwungen, zumindest ein Smartphone zu akzeptieren, mit einem E-Mail-Account. Dann ist ihre Schützerrolle gegenüber Mutter Erde in ihrem Herzen getroffen – diesen Moment zögern die widerspenstigen Frauen hinaus, solange sie können.
Aus einem Streit wird ein Debattierclub
Die Initiative, die später auch zum Club der Klageweiber werden sollte, gründete sich eher zufällig, an einem Dienstagnachmittag, in einem Café in Dortmund. Dort trafen sich vorwiegend ältere Frauen, die schon immer das gewesen waren, was man „alternativ“ nennt. Hippies, Punks, Künstlerinnen, Ökos, Anti-Atomkraft-Gegnerinnen, Kommunistinnen, Friedensbewegte… und natürlich waren sie alle auf die eine oder andere Art Feministinnen.
An jenem legendären Dienstagnachmittag im Oktober 2024 kam ihr Gespräch darauf, wie sie dem digitalen Wandel gegenüberstehen. Christine und ein paar andere Frauen liebten es, alle gesuchten Informationen direkt und ohne Aufwand über Google und Co erhalten zu können. Auch sonst genossen sie den Luxus, ihr Leben über das Internet zu organisieren, Medien zu konsumieren und in Echtzeit zu kommunizieren.
Andere Frauen in der Runde lehnten die Digitalisierung des Lebens völlig ab – vor allem aus dem Aspekt heraus, dass sie zu gläsernen Menschen werden, sobald sie sich darauf einlassen. Nach einem erregten Streitgespräch beschlossen die Frauen, einen Debattierclub zu gründen und sich dem Pro und Contra zu stellen, ohne in Streit zu geraten. Das mit den Klageweibern kam erst einige Zeit später – als eine von vielen Initiativen, die sich aus diesem Funken ergeben sollten.
Die Frauen mieteten einen Raum und erarbeiteten Regeln für ihren Debattierclub. Es wurde beschlossen, dass für den jeweils nächsten monatlichen Termin ein Thema festgelegt wurde, sodass sich die Frauen darauf intensiv vorbereiten konnten. Dabei stand über jeder Debatte der Grundsatz, die analoge Zeit vor 1990 mit der heutigen Zeit zu vergleichen. Was für eine Herausforderung, sich an diese internetfreie Zeit noch faktisch zu erinnern, ohne sentimentale Verwirrnis!
Aus den Gründungsmitgliedern – sieben an der Zahl – wurden rasch immer mehr Debattier-Süchtige. Es wurden Debattier-Runden eingeführt, bei denen Lose aus einem Topf gezogen wurden, die entschieden, ob man der Fraktion pro oder contra Digitalisierung angehörte. Diese Losverfahren erwiesen sich als nützlich, um Spaltungen und Radikalisierungen zu verhindern.
Bald wurden auch Reden im Club gehalten. Bei allen Aktivitäten, Debatten oder Reden, gab es Schiedsrichter, die Punkte verteilten und ihre Bewertungen begründeten. Da das Interesse an den Analog/Digital-Debatten zunahm, gründeten sich weitere Clubs.
Aus den Debattier- und Rednerclubs entstanden VHS-Kurse, in denen Menschen lernten, ohne digitale Unterstützung zu agieren. Was als Hobby startete, wurde im Laufe der Jahre zu einer Bewegung der Analogen, die zunehmend auch Jüngere ansprach.
Junge Menschen kamen hinzu, weil sie die seelischen Konsequenzen der digitalisierten Welt nicht verarbeiten konnten. Mädchen und Jungen tankten bei den Analogen Geborgenheit in Langsamkeit, übten sich in durchdachter Meinungsbildung, lernten philosophische Erkenntniskunst durch das Studium von Büchern aus Papier. So entwickelte sich ein weiteres Standbein in Zusammenarbeit mit psychiatrischen Einrichtungen, Ärzten und Universitäten: die Therapie des digitalen Burnouts. Überall in Deutschland entstanden Selbsthilfegruppen der „anonymen Digitalsüchtigen“.
Während dieser Zeit wurden die politischen Zwangsmaßnahmen zur Digitalisierung der Menschheit immer weiter perfektioniert. Der Einzelhandel verkümmerte zu einer neuen Form von Tante-Emma-Läden, die Produkte für den täglichen Bedarf vorhielten und in der Regel auf staatliche Subventionierung angewiesen waren.
Die Analogen und deren Sympathisanten konnten in diesen Läden Bestellungen abgeben, vornehmlich für Bücher und Antiquariatszeitschriften, aber auch für Filmkonserven aus internetfreien Zeiten – und natürlich für alle Dinge des täglichen Bedarfs, die nicht mehr analog vorrätig waren.
Da die Clubs, die sich immer weiter ausbreiteten bei Rentnern, finanziell Unabhängigen und Arbeitslosen, politisch als schrullig und lächerlich bewertet wurden, gab es keine Zensur oder nennenswerte Einschüchterungsmaßnahmen.
Zur Behandlung seelischer Erkrankungen von digital beeinflussten Störungen wurden die Clubs sogar ein angesehener Bestandteil der Gesellschaft – obwohl die Kommunikation mit Mitgliedern mühselig war. Keine E-Mails, keine Mobiltelefone, keine Online-Konferenzen – kurz, keine internetbasierte Verbindung – und das in Zeiten, in denen die Deutsche Post zu einer Werbeverteilungs-und Datenverarbeitungs-Firma geworden war!
Papierbriefe waren extrem teuer geworden und wurden nur noch einmal wöchentlich zugestellt. An den anderen Wochentagen lieferten die Postboten nur noch Werbung aus, die direkt an einzelne Haushalte adressiert war.
Düsseldorf
Christine hat den Düsseldorfer Hauptbahnhof erreicht. Sie ist Gründungsmitglied der Initiative „Mutter Erdes Klageweiber“. Langsam durchquert sie zu Fuß die leere Innenstadt Düsseldorfs.
Siebzig Prozent der Bevölkerung arbeiten ausschließlich im Homeoffice. Was hier noch unterwegs ist, sind „Do-it-Worker“ wie Lieferboten, ambulante Pflegedienste, Handwerker… Und natürlich die unzähligen Obdachlosen, die sich um Versorgungsstationen und Übernachtungsstellen scharen, rauchen und Kaffee trinken. An den Versorgungsstationen gibt es alles Mögliche von dem, was man zum Überleben ohne Wohnung und Arbeit braucht – auch Computer und ärztliche Hilfe.
Christine lächelt. Sie erinnert sich an die Zeit, als die Bettler noch um Kleingeld baten – das gibt es schon seit Jahren nicht mehr. 2024, im Gründungsjahr der Debattierclubs, war Christine 65 Jahre alt gewesen. Als sie 68 wurde, gründete sich der Club der Klageweiber, die sich künstlerisch ausdrücken, um Mutter Erde mit Hochachtung und Liebe zu würdigen. Nun ist Christine dreiundsiebzig Jahre alt und staunt nur noch, wie schnell alles ging.
Vor dem Eingang der Bank wird sie von einem höflichen Roboter angesprochen, der sie mit wunderschönen großen Augen betrachtet. Er begleitet Christine zum Automaten und hilft ihr, ihre monatliche Grundrente zu erhalten. Dann macht er sie noch bedauernd darauf aufmerksam, dass dieser Dienst der Bargeldauszahlung zum Ende des Jahres eingestellt wird.
So ist es eben, denkt Christine und gönnt sich noch eine Tasse Kaffee in einem Café an der Königsallee. Die Menschheit hat sich entschieden, auszusterben.
Christine und ihre Freundinnen wollen Ende des Jahres in eine Versorgungseinrichtung für verwirrte Senioren einziehen. In Dortmund haben sie bereits Kontakt aufgenommen mit einer privaten Einrichtung, die sich darauf freut, die analogen Klageweiber zu beherbergen und ein wenig zu verwöhnen. Dort werden sie ein Atelier haben und eine Schreibwerkstatt mit Schreibmaschinen und Matrizendrucker.
Die Klageweiber werden weiterhin ihre Theaterstücke und Konzerte aufführen können und Hilfesuchende zu Gesprächsgruppen einladen. Es ist für alles gesorgt – die analogen Sonderlinge sind beliebt und werden gepflegt. Auf winzigen Inseln inmitten eines digitalen Planeten erinnern sie Besucher an vergangene Zeiten – doch die Zeit des Planeten Erde, der dem Menschen anvertraut wurde, sind unwiederbringlich vorbei.
Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt, 12. Oktober 2024