Eva Ihnenfeldt, 5. Juni 2025: Es war an einem sonnigen Tag im späten Frühling des Jahres, des Jahres, in dem der Planet sich selbst zerstören würde. Es war der 5. Juni, und die Menschen wussten seit Wochen, dass etwas Gewaltiges bevorstand.
Die Straßen der großen Stadt waren voll mit verunsicherten Seelen, die sich nach Nähe und Geborgenheit sehnten. Man hatte sich seit der weltweit aufziehenden Bedrohung angewöhnt, täglich die Innenstadt zu besuchen und etwas mitzubringen von zu Hause – Kartoffelsalat, Reibeplätzchen, selbstgebackenen Kuchen. Oder gekühlten Sekt, frisches Bier, Pinnchen und Jägermeister, Behälter mit Eiswürfeln und Flaschen mit Gin.
Arbeiten ging nur noch, wer Wichtiges für die Gemeinschaft tat – und im Fernsehen sagten sie, überall auf der Welt würden sich die Menschen aneinanderkuscheln – je nach Kultur auf ihre Art und Weise. In vielen afrikanischen Ländern wurde laut gesungen und getanzt, in Südkorea versammelte man sich, phantasievoll verkleidet, vor riesigen Bildschirmen und genoss gemeinsam K-Pop-Konzerte. Da die Grenzen nicht mehr bewacht wurden, kamen mehr und mehr Brüder und Schwestern aus Nordkorea hinzu. Uralte, geheimnisvolle Bindungen wurden sichtbar – die Menschen mit ihren gemeinsamen Ahnensträngen fielen sich lachend und weinend in die Arme und konnten es kaum fassen.
So hatte jedes Land seine Art, die letzten Tage vor der endgültigen, alles zerstörenden Atomexplosion zu feiern. Erleichtert stellte man fest, dass Strom und Wasser nicht abgestellt worden waren. Auch die Bahnen fuhren noch. Und wer medizinische Hilfe brauchte, konnte sie weiterhin erhalten.
Die Läden standen offen, und jeder holte sich nur so viel, wie er verbrauchen konnte. Die Schiffer, Flugbediensteten und Lastwagenfahrer sorgten für Nachschub – über das Internet wurde die Versorgung organisiert – über alle Grenzen hinweg – Streit und Gier gab es nicht mehr.
Wozu auch? Streit und Gier für was? Am 21. Juni würde der Planet explodieren. Der rote Knopf war gedrückt, es gab nichts mehr zu verhindern. Es gab nur noch Abschied zu nehmen, nur noch zu lieben, zu lauschen, zu danken, zu trauern – nur noch zu teilen und gemeinsam die letzten Sonnenaufgänge und -untergänge zu bewundern.
In der großen Stadt in Deutschland wehten von vielen Fenstern schwarzgelbe Fahnen. Am Borsigplatz versammelten sich unzählige Fusballfans, sangen und feierten über alle kulturellen Grenzen hinweg. Moslems, Christen, Ungläubige und Gläubige aller religiösen Schattierungen tanzten rund um den Borsigplatz in langen Reihen, zogen tanzend weiter bis in die City, Hand in Hand, ohne sich loszulassen, weinten und lachten, bedauerten und jubelten, ergaben sich in ergebener Ehrfurcht dem Unabwendbaren.
Der 6. Juni kam, der 7. – am 8. und 9. Juni war Pfingsten. Manch gläubiger Christ hoffte insgeheim, der heilige Geist käme hernieder und würde die Hinrichtung des Planeten Erde abwenden, doch es wurden Tage wie alle zuvor, seit der Tag der Tage feststand: der 21. Juni rückte von Minute zu Minute näher.
In den letzten vierzehn Tagen vor dem endgültigen Zerfall wurde es ruhiger in der Welt. Dem Feiern, Teilen und Versöhnen folgten Tage der Kontemplation. Wer konnte, suchte die Ruhe in der Natur, suchte die Einsamkeit, um zu beten und sich auf das, was gewesen war, zu besinnen.
Manche konnten sich zu ihrem eigenen Erstaunen an frühere Leben erinnern in der Dunkelheit der Wälder. Andere bereuten aus tiefstem Herzen ihre Taten, mit denen sie ihren Mitmenschen Schmerzen bereitet hatten. Wieder andere klammerten sich verzweifelt wie Schiffbrüchige an ihre Kinder, ihre Enkel, ihre Liebsten.
Dann kamen die letzten Tage. Die Welt beruhigte sich, so wie sich alles Sterbende vor seinem Ende zu beruhigen scheint. Selbst die seelisch Verwirrten, die Verbitterten und Verängstigten kamen in eine fast unheimliche Ruhe, atmeten langsamer, atmeten flacher und hielten inne bei all dem, was da war.
Edith und Franz waren sich am 5. Juni zum ersten Mal auf dem Hansaplatz begegnet und hatten sich auf den ersten Blick erkannt. Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich, hatten das Wunder des paradiesischen Miteinanders gemeinsam erlebt.
Mit ihren Rollatoren bewegten sie sich durch die Massen der Feiernden, fuhren zur Zeit der Besinnung mit der Bahn in die umliegenden Wälder Dortmunds, erwarteten das Weltenende am 20. Juni mit Schlafsäcken auf einer riesigen Blumenwiese bei sternklarer Nacht.
Um 12 Uhr mittags am 21. Juni erfolgten die Explosionen, die sich überall auf der Erde zum selben Zeitpunkt entluden. Franz und Edith, beide sechsundachtzig Jahre alt, fassten sich an den Händen und tanzten wie ein junges Liebespaar ihren letzen Tanz, während in der Ferne einer der unzähligen Atompilze aufblühte.
Und dann gab es Kuchen.