Und da wurde er erneut geboren, reifte erneut im Bauch einer Frau zum Menschen. Aufgewachsen im 1. Weltkrieg, in Not, Mangel und Entbehrungen, erlebte er, wie Propaganda und Lügen die Menschen im Ruhrgebiet verwirrten und einschüchtern. Die meisten wehrfähigen Männer waren im Krieg. Täglich kamen Todesmeldungen. Sämtliche Familien hatten Angst vor dem Postboten, Tag für Tag für Tag.
Durch den Mangel an Nahrungsmitteln entstanden Krankheiten und Epidemien, die vor allem Kinder und alte Menschen dahinrafften. Jesus, der in diesem Leben den Namen Hermann erhielt, hatte seinen Erzeuger und Vater nur wenige Jahre gekannt, bevor dieser einberufen wurde. Seine Mutter musste ab 1916 in der Rüstungsindustrie arbeiten. Das half der Familie, die lang wütende Hungersnot in den letzten beiden Kriegsjahren zu überleben. Bei Kriegsende war Hermann 16 Jahre alt.
Hermann war ein ruhiges Kind. So oft wie möglich war er in der Stadtbücherei, las Bücher in jeder freien Minute. Bei den anderen Kindern war er sehr beliebt, in der Schule unauffällig. Am liebsten jedoch war er allein irgendwo draußen, von wo aus er die fernen Fabriken beobachtete.
1918 war dann der Krieg zu Ende – mit 10 Millionen gefallener Soldaten und 7 Millionen Todesopfern in der Zivilbevölkerung, von der Propaganda „Heimatfront“ genannt. Die Straßen waren bevölkert von kriegsversehrten Männern, die bettelten, Streichhölzer oder Pflaster verkauften.
In der Weimarer Republik engagierte Hermann sich in einem kulturellen, sozialdemokratischen Arbeiterverein. Gemeinsam las man Kant, Nietzsche und Marx, diskutierte die Inhalte und führte selbst gestaltete Theaterstücke auf. Dann kam 1929 die Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 1932 auf sechs Millionen. Die Bevölkerung hungerte schon wieder. Armuts-Aufstände und politische Kämpfe verängstigten das verzweifelte Volk.
Und dann kam der März 33
Hermann, 1912 geboren, war nun 21 Jahre alt. Es war ihm in der Weimarer Republik nicht gelungen, eine der heiß begehrten Lehrstellen zu bekommen. Seit seinem 14. Lebensjahr arbeitete er schwarz auf Baustellen und in der Landwirtschaft. Manchmal bezahlte man ihn, manchmal nicht.
Mit Hitler und der aufblühenden Rüstungsindustrie verschwand die Arbeitslosigkeit und Hermann konnte legal im Straßenbau arbeiten. 1936 verzeichnete Deutschland Vollbeschäftigung zu guten Löhnen. 1936 war auch das Jahr, in dem Hermann im Alter von 24 Jahren für zwei Jahre zum Wehrdienst eingezogen wurde – wie alle Männer zwischen 18 und 50 Jahren. Die Wehrpflicht war 1935 per Gesetz wieder eingeführt worden.
Hermann widersetzte sich weder den Grausamkeiten im Alltag, noch der Tötungsausbildung im Wehrdienst. Er nahm hin, was nicht zu ändern war.
Alles, was er tat, war, sein Kreuz auf sich zu nehmen in Geduld, Sanftmut und Mitgefühl. Er war freundlich zu jedermann, zu den verängstigten Juden mit ihren gelben Sternen ebenso wie zu seinen sadistischen militärischen Vorgesetzten. Er vollbrachte keine Wunder. Hermann beugte sich traurig dem Wahn, akzeptierte die hysterische Wolllust des gequälten, nun wieder auferstandenen Volkes.
1939 begann der Krieg. 1941 wurde Hermann eingezogen, im Alter von 29 Jahren. Er starb im Kessel von Stalingrad wie alle anderen auch. Nichts gibt es zu berichten, was ihn hätte aus der Masse herausheben lassen.
Auf verborgenen Wegen gelangten seine Kriegs-Tagebücher zurück in die Heimat. Man sagt, dass jeder, der diese handgeschrieben Bücher liest, verwandelt wird in einem unendlichen Strom von Tränen.
So traurig und herrlich ist die Welt,
so nah sind Himmel und Hölle,
so zart und kostbar sind Liebe und Leid,
erlebbar ausschließlich als Mensch hier auf Erden.
Eva Ihnenfeldt, 29. Juni 2025
In liebevollem Gedenken an alle:
Die Täter, die Opfer, die Stillen und die Lauten.