Eva Ihnenfeldt, 13. Juni 2025: Ich arbeite gern im Bewerberservice. Dort lerne ich täglich (wenn alle eingeladenen Langzeitarbeitslosen kommen) ein bis zwei Menschen kennen, die vom Jobcenter zu uns geschickt werden, um ihre Bewerbungsunterlagen zu erstellen, nach Jobs zu suchen – und sich (wenn möglich) direkt zu bewerben. Natürlich falle ich, wie immer, komplett aus dem jobüblichen Rahmen. Ich will, dass alle, die diese heiligen drei Stunden zu mir kommen, wirklich arbeiten gehen – und zwar was Vernünftiges!
Etwa neunzig Prozent meiner Klienten sind Migranten, viele stammen aus dem Nahen Osten, haben in der Regel keinen in Deutschland anerkannten Schulabschluss, sprechen oft noch sehr schlecht Deutsch und haben meistens nur die Wahl zwischen Lagerjobs, Putzen und Küche. Meistens werden die Jobs von Zeitarbeitsfirmen angeboten, was bedeutet, dass die erfolgreichen Bewerber in der Regel nur für ein paar Monate eingesetzt sind. Die Berufsbiografie der Eingewanderten ist oft sehr, sehr lang. Erst Jobs in ihrer Heimat, dann Jobs auf der jahrelangen Flucht durch den Libanon und die Türkei – schließlich Flüchtlingsheim und Bürgergeld…
Ich versuche, ihnen Mut zu machen. Viele sind verheiratet, haben Kinder – und nichts ist für einen Ehemann aus dem Islam so demütigend wie Arbeitslosigkeit. Ein sehr netter Bewerber hat es mir erklärt. In Syrien heißt es, sagt er: „Der Mann bringt, die Frau baut“.
Der Mann ist verantwortlich für das Geld – die Frau dafür, dass das Geld aufbauend zum Wohle der Familie verwendet wird. Ich tröste, ich drucke den Niedergedrückten Unmengen an Bewerbungen aus, damit sie diese in Papierform mitnehmen können. Einen Computer hat fast niemand, und sich online per Handy zu bewerben, ist oft eine Überforderung. „Sie schaffen das“, sage ich beim Abschied, und das ist keine Floskel, das meine ich ernst.
Kati
Gestern jedoch kam eine deutsche Frau in die Beratung. Sie sah jung aus mit ihren pink gefärbten Haaren, war aber schon 40. Laut Jobcenter-Akte hatte sie noch nie gearbeitet – was aber nicht stimmte. Sie war nur schon oft umgezogen, wohnte erst seit anderthalb Jahren in Dortmund – man kannte sie beim Jobcenter noch kaum.
Kati war bestens vorbereitet, hatte lauter Zeugnisse, Zertifikate und mehrere Abschlüsse mitgebracht, die ich einscannen konnte. Sie erzählte, dass sie zwei Kinder habe, beide schwerbehindert, und dass sie tatsächlich seit vierzehn Jahren nicht mehr gearbeitet hat, weil sie seit der Geburt der Erstgeborenen als Mutter Tag und Nacht im Dienst war.
Bis heute schläft Kati in der Regel nie mehr als vier Stunden. Ihre Kinder, belastet durch Autismus, ADHS und komplizierte Gen-Besonderheiten, die ich nicht kannte, brauchten ihre Mama auch mit 12 und 14 Jahren noch Tag und Nacht.
Kati erzählt mir viel von ihren Willens-Magie-Fähigkeiten, die ihre kleine Familie immer wieder in den verrücktesten Herausforderungen gerettet haben. Lauter Beispiele, wo sie kleine und große Wunder erlebt hat, die sie in ihrer „Ich-schaff-das“ Schwerstarbeits-Berufung immer wieder das Unmögliche bewältigen ließen.
Übrigens lebt die kleine Familie (Kati war als Mama von der 1. Schwangerschaft an alleinverantwortlich) im 5. Stock in einem Altbau ohne Aufzug. Ich staune. Darum ist das Mädel so fit! So gut wie jeden Tag geht sie einkaufen, fährt mit Öffis zu den besten Discountern, packt ihre Beute in einen großen Rollkoffer und schleppt daheim gemeinsam mit ihren tüchtigen, gehandicapten Kindern alles in umgepackten Tüten in den 5. Stock.
Doch dann wird Kati ernst. Sie hat einen Auftrag für mich: Die Kinder sind jetzt zuverlässig bis 16 Uhr in ihren Schulen. Anschließend könnten sie bis zu zwei Stunden allein in der Wohnung bleiben. „Ich will arbeiten. Ich will raus. Jetzt ist endlich Teilzeit möglich. In der Zeit von 8 Uhr bis 18 Uhr kann ich in Teilzeit arbeiten. Das Geld ist egal, ich brauche sowieso ergänzend Jobcenter-Unterstützung.“ Und dann sagt die ausgebildete Einzelhandels-Kauffrau mit Mittlerer Reife ganz genau, was sie will: „Ich will einen sozialversicherungspflichtigen TZ-Job, bei dem ich Auto fahre. Ein Auto kann ich bekommen. Ich will einen Führerschein.“
Ich grüble. Klasse-B-Führerschein ist extrem teuer geworden – mindestens 3.000 Euro. Jobcenter kann das nur finanzieren, wenn man eine Arbeitsvertragszusage vorlegt von einem Arbeitgeber, der bestätigt, dass man bei ihm angestellt wird, wenn man einen Führerschein hat. Was natürlich Quatsch ist – welcher Arbeitgeber macht denn sowas? Höchstens ein Verwandter, der diese Zusage einhalten kann, auch wenn der Bewerber erst Monate nach der schriftlichen Bescheinigung fürs Jobcenter mit dem Führerschein den Job übernehmen kann.
OK, die Frau hat einen Willen, ich verstehe. Sie hat mich eingesetzt – Eva denkt. Ich suche im Web nach einem Muster für ein solches verbindliches Arbeitsvertragsversprechen. Werde fündig. Ich kopiere den Text und suche nach einer Teilzeitstelle als Botenfahrer. Außerdem finde ich eine Qualifizierung zum Botenfahrer in Dortmund, die manchmal vom Jobcenter genehmigt wird: Ausbildung plus Führerschein…
Ich finde eine einzige Stellenausschreibung für eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitstelle als Botenfahrer in Dortmund – für eine Apotheke. Der Botenfahrer ist laut Anzeigentext für zwei Monate nicht verfügbar – die Apotheke sucht für diese Zeit einen Ersatz. Wir googlen die Apotheke. Wir finden den Inhaber mit seinem Foto. Er war in der Zeitung, hatte sich gegen ein bürokratisches Unrecht gewehrt, scheint ein mutiger Mann zu sein.
Ich verändere das Musterschreiben so, dass er keinerlei Verpflichtungen auf eine spätere Einstellung eingeht. „So“, sage ich, „mit diesem ausgedruckten Schreiben gehst Du in die Apotheke, sprichst mit dem Besitzer und bittest ihn, Dir das unverbindliche Schreiben zu unterschreiben und einen Stempel darunterzusetzen. Und dann gehst Du damit zum Jobcenter und sagst, Du brauchst die Qualifizierung zum Botenfahrer“. Kati versteht. Sie sagt, dass sie Montag hingehen wird. Das war gestern, am Donnerstag.
Heute sitze ich bei strahlender Abendsonne an meinem geliebten Altenheim. Ich unterhalte mich mit einer 75-jährigen Anthroposophin, die aussieht wie 55. Wir plaudern so vor uns hin, da hält ein Auto direkt vor dem Haupteingang. „Ich glaube, der Fahrer kennt Dich“, sage ich zu meiner neuen Freundin. „Nein“, sagt sie. „Ich kenne hier zwar viele, aber den kenne ich nicht“. Der Mann steigt aus. Kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Er geht zum Kofferraum, öffnet ihn – und acht Kästen Medikamente werden sichtbar. Auf den Kästen steht der Name der Apotheke.
Ich komme mir vor wie eine Zuschauerin im Freiluftkino. Der Mann ist tatsächlich der Besitzer der Apotheke, die wir einen Tag zuvor ergoogelt hatten! Ich spreche ihn an: „Entschuldigung, sind Sie zufällig der Besitzer dieser Apotheke?“ „Ja..“ „Sie also suchen gerade einen Botenfahrer und fahren erst mal selbst aus?“ Ja“.
Und dann erzähle ich ihm alles. Wie wir ihn ergooglet haben, das Schreiben formuliert haben, und dass Kati Montag in die Apotheke damit kommen will. Dass es toll wäre, wenn er das Schreiben – das völlig unverbindlich formuliert ist nach dem Motto „Ach, wenn Frau X einen Führerschein gehabt hätte, hätten wir sie sehr gern eingestellt. Vielleicht wird sich in Zukunft erneut so eine Gelegenheit ergeben …“. Er versteht.
So, und nun werde ich diese Geschichte per E-Mail an Kati schicken. Schätze, diese Schlacht ist gewonnen. Was für ein Synchronizitäten-Wunder! Da fährt er direkt vor meine Nase, damit ich Katis Auftrag ordentlich abschließen kann. Geile Frau – voll die magische Willens-Power. Ich bin stolz, für solche Menschen arbeiten zu dürfen. Danke schön, lieber Gott. So etwas macht glücklich…