Gestern war so ein Tag, der mich direkt bei zwei Veranstaltungen vor die Wahl stellte: „Geh’ ich oder bleib‘ ich?“ Überrascht stellte ich fest, wie leicht es mir fiel, ehrlich zu sein. Dabei war es keinesfalls so, dass ich etwas an den Situationen verurteilt habe – es passte ganz einfach nicht zu mir und zu dem, was ich mag. Je länger ich im digitalen Zeitalter lebe, desto mehr ich entscheide ich in Blitzesschnelle, was ich mag und was ich nicht mag.
Rasch entscheiden wie die Tauben bei Aschenbrödel
Heute früh wurde mir bei meiner täglichen YouTube-Recherche bewusst, wie die riesige Auswahl an digitalen Input-Möglichkeiten meinen persönlichen Geschmack verfeinert hat. Ich erkenne bei Videos und Musikstöbereien schon noch wenigen Sekunden (die Mainstream-Bezeichnung dafür ist weiterhin „Goldfisch-Aufmerksamkeitsspanne“), ob mir der Inhalt gefällt oder nicht. Diese rasche Auffassungsgabe habe ich dem ständigen Training meiner Suchkriterien zu verdanken.
Manchmal komme ich mir vor wie in einer gigantischen, kosmischen Bibliothek, in der ich die großartigsten Schätze finden kann – jedoch nur, wenn ich gelernt habe, wie ich mich durch den Überfluss wühlen kann. Dabei ist das Prinzip „Traue den ersten 3 Sekunden“ sehr hilfreich – zumindest bei der Auswahl von Medieninhalten.
Habe ich nach unzähligen Sekunden-Zappereien bei YouTube etwas gefunden, was mich fesselt, bleibe ich auch schon mal ein, zwei Stunden bei interessanten Videos hängen. Kurze Videos blende ich schon vorher als Suchoption aus – und Clickbait-Titel wie „So etwas hast Du noch nie gesehen!“ führen ebenfalls direkt in die Mülltonne.
Meine persönlichen Interessen drehen sich ausschließlich um Wissenserweiterungen und Hintergrundeinschätzungen. Mein Glauben an die Authentizität der Autoren bildet sich durch meine Recherche und Beobachtung immer weiter aus – wie bei einem Profiler. Sobald ich Unauthentisches entdeckt oder Lügen gefunden habe, ist der Kanal für mich erledigt. Heute ist es nicht mehr wie damals in der Schule, wo ich den Lehrern ausgeliefert war, egal, wie schlecht oder bösartig sie waren. Damals gab es kein Entkommen – heute habe ich die freie Wahl. Das macht Spaß!
Meine Medien-Kompetenz überträgt sich auf meine haptische Welt
Nun stelle ich also fest, dass mich der tägliche Aufenthalt in meiner „Kosmos-Bibliothek der Medieninhalte“ auf mein sonstiges Leben und Arbeiten übertragen hat. Grundsätzlich liebe und respektiere ich jeden Menschen – doch wenn mich ein Gespräch langweilt oder meine Psyche sich über etwas ärgert, lebe ich nach dem guten alten Motto „Liebe es – oder ändere es – oder geh‘ weg“. So habe ich durch meine Sekunden-Stöbereien gelernt, sehr schnell zu erkennen, wenn ich etwas nicht mag.
In Gesprächen gelingt es mir häufig sehr schnell, eine langweilige oder gar destruktive Atmosphäre in etwas vereinend Positives zu verwandeln. Ich muss nur zunächst die richtigen Worte dafür finden.
Gestern Abend zum Beispiel wurde ich von meinen lieben Nachbarn zum Geburtstagsessen (88. Geburtstagsessen in einem deutschen Restaurant) eingeladen. Einer von uns ist vor der Rente aktiver Gewerkschaftler gewesen und redet sehr laut, sehr viel und meistens negativ. Von Anfang an schimpfte er über das viel zu teure deutsche Restaurant und dass das Essen sicher schlecht sei. Ich blieb mit Rücksicht auf das Geburtstagskind ruhig. Doch zurück im Treppenhaus, nachdem sich die Wohnungstür der Gastgeber geschlossen hatte, sagte ich zu ihm „Puh, jetzt muss ich mich erst mal erholen von Deinem ganzen Geschimpfe. Ich bin total erledigt.“ Er war ganz erschrocken, verstand sofort, was ich meinte und entschuldigte sich für sein Verhalten.
Neues Bewusstsein durch digitale Medienfreiheit?
Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der sich Hierarchien auflösen und in der langfristige Planungen an Wert verlieren. Die einen planen nicht mehr aufgrund ihrer prekären beruflichen Situation (Haus bauen ohne sicheren Job? Wer macht denn sowas!), die anderen, da sie den baldigen Untergang des Planeten erwarten, wieder andere aufgrund der Kriegsgefahr oder der wachsenden Verelendung der Städte.
Hierarchien brauchen Tradition, Gehorsam und andere Untertan-Qualitäten. Menschen, die in der Gegenwart leben, verlieren die Hoffnung, in den verschiedenen Hierarchie-Systemen aufzusteigen und dort sicher zu verbleiben. Immer häufiger hört man „Der Kaiser ist ja splitternackt!“
Das eine mag ich – das andere mag ich nicht
Schon wenige Wochen nach der Papstwahl von Leo XIV finde ich Analysen bei YouTube, die behaupten, dass nun eine Art Machtkampf im Vatikan stattfindet. Die vielen Storys um Trump, Musk, Peter Thiel und den anderen MAGA-Profiteuren langweilen sogar schon die meisten Menschen. (Mich nicht) ;).
Diese Hierarchienzusammenbrüche stimmen mich hoffnungsfroh. Wenn wir Menschen einfach unserem Instinkt trauen lernen und Entscheidungen treffen aufgrund unseres ureigenen Geschmacks, werden wir womöglich unregierbar. Das könnte zu Chaos und Bürgerkriegen führen – aber auch zu Verständigung und einem statusfreien, unbeschwerten Miteinander.
Wir werden sehen….