Am 2. Weihnachtstag war ich in einem Gottesdienst, bei dem der Pastor einen Advents-Text der Theologin und Journalistin Iris Macke an die Wand projizierte. Er bat uns, den Text laut vorzulesen. Ich konnte es kaum übe mich bringen, so deprimierend waren die Aussagen! Doch dann kam der Clou: Im zweiten Durchgang sollten wir den Text von unten nach oben Zeile für Zeile laut lesen – und plötzlich ergab sich aus denselben Worte eine Umstülpung der Aussagen – eine Transformation! Natürlich lies mir das keine Ruhe und ich versuchte, dem Geheimnis des „von unten nach oben wie oben nach unten texten können“ auf die Spur zu kommen. Und ich glaube, ich habe es geschafft!
Anleitung: Das Von oben nach unten und von unten nach oben Texten
Zunächst habe ich den Advents-Text von Iris Macke strukturiert. Von oben nach unten ergaben sich Sinn-
Zusammenhänge in ungeraden Zeilenfolgen. Es sei denn, dass Zeilen mit „dass“ beginnen. Da kann man beliebig viele „dass“ Aussagen formulieren. Hauptsache, die Zeile davor beginnt mit einer Verneinung.
Von unten nach oben ergeben sich Sinn-Zusammenhänge versetzt mit geraden Zeilenfolgen. So kann man verneinen, was vorwärts Tatsache war – und bejahen, was vorwärts verneint wurde. Die erste und letzte Zeile des Textes nimmt die Kernthese auf – aus verschiedenen Perspektiven.
Hier die konkrete Aufschlüsselung des Advents-Textes von Iris Macke:
- Substantiv1 heißt Substantiv2 (Endaussage)
- Nein, die xxx ist (Lösung)
- Dass Substantiv1 das und das ist (was Schlechtes)
- Ich… (Verneinung )
- Zeile mit Dass in etwas Gutem
- Zeile mit Dass in etwas Gutem
- Zeile mit Dass in etwas Gutem
- Wahrhaftige Einleitung (nach oben wie unten)
- Etwas Negatives
- Etwas Verneinendes mit Ausrufung (nach oben wie unten)
- Zeile mit Dass in Gut
- Zeile mit Dass in Gut
- Feststellung
- Negatives
- Verneinung dieses Negativen (von unten nach oben – bestürzend von oben nach unten)
- Deprimierende Tatsache
- Es ist nicht wahr, wenn… (von unten nach oben obere Zeile widerlegen – von oben nach unten letzte Zeile ganz schlimm)
- Haupteinleitung – Thema benennen in positiv
Nun konnte ich es anhand dieser Anleitung ganz leicht selbst nachahmen (brauchte fünf Minuten dafür!) Natürlich muss man sich nicht sklavisch an den genauen Ablauf halten. Hier gibt es noch ein berühmt gewordenes Beispiel eines 14-jährigen US-Schülers, der einen „Von oben nach unten – unten nach oben“ Text über die eigene Generation verfasst hat.
Focus: Achtklässler wird mit geheimer Botschaft zum Twitter-Star
Und nun ich mit meinem ersten Versuch:
Über die Liebe
Lieben heißt Wahrhaftig sein
Was für ein Unsinn, es ist doch so,
Lieben bedeutet, sich zu versklaven
Ich weigere mich zu glauben,
Dass Liebe Heimat ist
Dass Liebe Freiheit ist
Dass Liebe den Tod überdauert
Die Wahrheit ist
Liebe bringt Dich weg von Dir selbst
Wir lassen uns von Niemandem einreden
Dass Liebe glücklich macht
Dass Liebe Hingabe an den Moment bedeutet
Es ist die über allem stehende Wahrheit
Dass Liebe betrügt
Ich weigere mich, der Ideologie zu folgen
Nichts wird uns erlösen
Es wäre das Ende meines Lebens würde ich glauben
Liebe ist die einzige Wahrheit, die es gibt
Und nun von unten nach oben lesen 🙂
Text von Eva Ihnenfeldt
Ist das nicht cool? Ich bin begeistert! Kann man sich glatt selbst mit therapieren bei Misstrauen und Bitterkeit. Kann man bei Festen Jubilaren eine Freude mit machen (wenn man sie zunächst liebevoll veräppelt – und dann zu voller Größe erhebt). Über weitere Beispiele in den Kommentaren freue ich mich natürlich sehr. Macht wirklich Spaß und ist gar nicht so schwer.
Auf die Liebe!
Eure Eva Ihnenfeldt
Ist dieser herrlich pessimistische Text der Ursprung der textlichen Transformationskunst?
„Lost Generation“ von Jonathan Reed
Hallo, liebe Frau Ihnenfeldt,
ich will Sie nur wissen lassen, wie sehr Sie mir mit Ihrem von-oben-nach- unten-und-unten-nach-oben- Gedicht „über die Liebe“ gerade ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben.
Ich kannte den Text von Iris Macke. Ihrer strahlt in meinem Herzen noch wärmer und ich fühle, dass die Worte beginnen zu leuchten 🙂
Herzensgrüße und ein Lächeln,
Antje Koehler
Hallo liebe Frau Koehler,
was für eine Freude Sie mir gerade gemacht haben – das ist so wunderschön, was Sie schreiben! Und ich schreibe doch so gern! Und immer häufiger! Jaja, das macht wohl das Alter – da wird man gütig glaube ich (hoffe ich).
Ganz viel Liebe hin und her und rauf und runter
wünscht von Herzen
Eva Ihnenfeldt