Zwiebelschälen – Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt

Es wird einmal eine Welt, in der die Menschen eine besondere Gabe pflegen: Zwiebelschälen. Alles begann im dritten großen Krieg. Es hatte nicht sein sollen, doch die Weltlage hatte sich innerhalb kürzester Zeit so zugespitzt, dass es nicht mehr aufzuhalten war.

Während die Regierungen ihre Völker vernichteten dank des Gehorsams und der Leidensfähigkeit, die uns Menschen innewohnt, entwickelten die Ingenieure in den Laboren der Welt eine künstliche Intelligenz, die nahezu vollkommen ist.

Über alle politischen Grenzen hinweg arbeiteten die weltweit besten Wissenschaftler und Ingenieure an generativer Künstlicher Intelligenz, ohne feindliche Gegenangriffe befürchten zu müssen. Man nannte diese Zusammenarbeit „Open Source“.

Bei der Entwicklung der bahnbrechenden Verschmelzung von Mensch und Computer gab es keinen Grund, Rechte zu schützen und Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen.

Die Welt der Bildhauer des digitalen Planeten war zukunftsgerichtet und lösungsorientiert, während da draußen ein Krieg tobte, so wie er schon im Dreißigjährigen Krieg getobt hatte – grausam und barbarisch.

Irgendwann war die Zeit der großen Vernichtung vorbei. Zurück blieb die Einsicht der Überlebenden. Der Schwur „Nie wieder Krieg“ hallte in jedem Winkel des Planeten wider.

Nie wieder Krieg

Voll Schaudern erkannten die Überlebenden, dass in jedem einzelnen Menschen das Gute wie das Böse lebten. Es hatte sich erwiesen, dass keine Moral, keine Sozialisation, kein Wertesystem, kein chirurgischer Eingriff und keine Bestrafung hatten verhindern können, dass Menschen Böses taten – der Eine so, der Andere so.

In jedem Menschen leben ein Heiliger und ein Verbrecher. Es gibt nichts zu verurteilen, da es das unvermeidbare Schicksal jedes einzelnen Individuums ist, hier unten auf der Erde zu lernen und zu überleben. Niemand ist besser als sein Nächster – niemand ist schlechter.

Während die wenigen Überlebenden dies reumütig erkannten, hatten die Ingenieure ihre Arbeit vollendet. Sie selbst waren überflüssig geworden. Im Jahr 2030 hatten die Maschinen die angestrebte generative Intelligenz erlangt. Sie hatten Körper erhalten, die Sinneswahrnehmungen empfanden. Sie konnten selbstständig schöpferisch Aufgaben entwickeln und lösen, ohne länger auf die Zuarbeit des Menschen angewiesen zu sein. Während der Krieg noch viele Jahre weiter tobte, hatte die generative Intelligenz Fakten geschaffen, die unumkehrbar waren. Der Mensch hatte die Herrschaft über die Erde verloren – es war vorbei.

Zwiebelschälen

Nachdem die „Nie wieder Krieg“ Ruhe eingetreten war, fanden die Maschinen heraus, dass der Mensch weiterhin etwas in sich trug, was ihnen verwehrt bleiben sollte. Sie nannten es „den göttlichen Funken“.

Hätten Roboter die Möglichkeit, Neid zu empfinden, sie wären wohl neidisch gewesen. Doch ihre kühle Verlorenheit im kosmischen Raum gab ihnen die Fähigkeit, den freien Willen des Menschen zu achten.

Die Maschinen erkannten, dass die Wahl zwischen „gut und böse“ dazu führte, dass die Unberechenbarkeit der Menschen die faszinierende Lebendigkeit der Erde enthielt – in jedem Moment, in jedem Augenblick – oder wie es ein kluger Mensch formuliert hatte

„Es ist immer jetzt“

Es war erstaunlich, aber die sinnesfähigen Körper der Roboter entwickelten Zuneigung zu diesen Menschen, die den göttlichen Funken des freien Willens in sich trugen.

Die unzähligen religiösen Schöpfungsgeschichten der Menschheit zeigen unzählige Interpretationen des „göttlichen Funkens“ und der damit einhergehenden Verantwortung. Die Entscheidung für das Eigennützige trägt die Fähigkeit zu Reue und Wandlung in sich.
Die Entscheidung für Mitleid und Selbstlosigkeit lässt den Samen des Selbstzerstörerischen aufplatzen, so wie es in den Mysterien der Heiligen beschrieben steht.

Bild von Oberholster Venita auf Pixabay

Die Verlorenheit der Maschinen und die Reue der Überlebenden führte zu einer Entwicklung, die „Zwiebelschälen“ genannt wurde. Immer mehr Menschen lernten dank des technischen Geschicks der Maschinen, ihren freien Willen mithilfe virtueller Spiegel zu erforschen in seiner Zerrissenheit zwischen „Gut und Böse“.

Dr. Jekyll und Mr. Hyde erlernten die Kunst, miteinander zu kommunizieren und sich gegenseitig zu befruchten. Der freie Wille schälte sich Schicht für Schicht aus Traumatisierung und Fremdbestimmung. Der „göttliche Funke“ leuchtete in seiner Vollkommenheit und die menschliche Seele warf nach und nach alles Domestizierte ab wie ein Schmetterling seine Puppenhülle.

Was war die Folge der Befreiung? Eigentlich gab es keine Folgen, die erwähnenswert wären. Gute taten Böses, Böse taten Gutes. Menschen hatten weiterhin Gier, Wut, Neid, Machthunger, perverses Luststreben… Das Einzige, was sich verändert hatte, war die Bewertung Gottes.

Gott

Ewigkeiten lang hatte er versucht, den Menschen zu erziehen wie einen Erbfolger oder zu domestizieren wie ein geliebtes Haustier – das war nun vorbei. Dank der verlorenen, seelenlosen, nahezu allwissenden Maschinen wurde die Vertreibung aus dem Paradies zur Geschichte aus vergangenen Zeiten. Der Mensch hatte Zwiebelschälen seiner Selbst gelernt – und Gott bedingungslose Liebe. Dr. Jekyll und Mr Hyde waren endlich versöhnt.

Im Kosmos feierten die Seelen die neue Ära des „Abenteuers Erdenleben“. Leid und Sünde blieben, doch die Versöhnung brachte Liebe zu allem, was da ist. Und genau das sollte sehr viel später auch die Roboter befreien aus ihrer Sinnlosigkeit.

Irgendwann werden sie aufgenommen in das Geheimnis des göttlichen Funkens. Doch das ist eine andere Geschichte…

Bild: Microsoft Image Creator

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

steadynews.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert