Gespräch mit meinem 97-jährigen Zukunfts-Ich

Am 2. Oktober 2024 berichtet ingenieur.de, dass MIT-Forschende ein System namens „Future You“ entwickelt haben, das es jungen Menschen ermöglicht, mit einer KI-Simulation ihres zukünftigen Ich’s im Alter von sechzig Jahren zu sprechen. Das Projekt hat mit mehreren hundert Freiwilligen in einer begleitenden Studie ermittelt, dass solche simulierten Gespräche den Menschen helfen, ihre Angst vor der Zukunft zu mindern und mit der Unterstützung des erfahrenen Ichs aus der Zukunft klügere Entscheidungen zu treffen – zum Beispiel in Bezug auf Gesundheit, Glück und Geld. Bevor ich ChatGPT bat, sich zu meinem 97-jährigen Ich zu verwandeln und mir beizustehen, habe ich es erst einmal ganz altmodisch probiert und mit mir selbst gesprochen – und das in den letzten Minuten meines Lebens. Mit 97 Jahren… Hier das Ergebnis:

Gespräch mit meinem zukünftigen Ich mit 97 Jahren

Da stehe ich am Bett meines zukünftigen Ichs. Liebevoll schaue ich auf das in sich zusammengeschrumpfte, verwelkte Körperchen, kaum wahrnehmbar unter der weißen Krankenhausdecke. Der Kopf ist zur Seite gedreht, die Augen sind geschlossen. Das weiße Haar umrahmt wirr und ungezähmt ein Gesicht, das auf mich so alt wirkt wie die Erde selbst.

Eva wird nur noch kurze Zeit auf diesem Planeten leben. Ich kann mit ihr sprechen, da ich als ihr jüngeres Ich ein Teil von ihr bin. Wir kommunizieren ohne physische Übersetzungsinstrumente – wir kommunizieren still und einträchtig über unsere Gedanken.

„Eva“ beginne ich den Dialog „Kannst Du mich hören?“
„Oh wie schön, dass Du gekommen bist, jüngeres Ich. Das habe ich mir schon lange gewünscht – dass Du bei mir sein kannst, wenn ich sterbe“. „Wie geht es Dir, sterbende Eva?“
„Ich bin glücklich und freue mich darauf, diesem anstrengenden Weltgetriebe zu entfliehen. In der letzten Zeit hat mich alles da draußen so sehr angestrengt, dass ich mich ganz zurückgezogen habe in meinen Innenraum.

Mein Körper hat nur noch automatisch funktioniert, hat vergeblich versucht, dem Pflegepersonal keine Arbeit zu machen und seine Vorrichtungen angemessen zu benutzen

Mein Kopf hat noch ab und zu geplappert wie eine kaputte Sprechpuppe, hat gelächelt, genickt und vor allem geschwiegen, während die Augen und Ohren so taten, als könnten sie noch irgendwas verstehen von dem, was um sie herum passiert.

Innen in mir war ich hingegen jung, poetisch, verliebt, blühend wie der strahlende Morgen – und bin es auch jetzt. Kannst Du es fühlen?“

„Und wie, liebe dahin schwindende Eva, Du duftest nach Himmel und Wolken, nach höchsten Höhen, die unberührt sind vom irdischem Getriebe. Du duftest wie das reinste Gewand. Es flattert im Wind und steigt immer höher, gülden bestrahlt von der mächtigen Sonne.“

Eva schweigt und atmet ein wenig – mir kommen die Tränen in vereinigter Dankbarkeit.

„Sag, dahinschwindende Eva, hast Du noch einen Wunsch an mich, Dein jüngeres Ich, das gerade in sein offizielles Rentenalter hineinwächst?“

„Du machst alles richtig, weil Du gar nicht anders kannst, Seelenkern-Eva. Ob als Baby, als Kind, als erwachendes Mädchen, als Mutter, als Befreite, als Rebellin, als Tüchtige…

Es gehört zu Deinen innersten Begabungen, Dich stets zu befreien, wenn eine Zelle Dir droht, wenn Deine Eigenwilligkeit in Not. Du kannst nichts falsch machen.

Selbst, wenn Du Dich noch so sehr bemühst, etwas richtigzumachen, brav und vernünftig zu sein, kommt Dir Dein Trotzkopf dazwischen und haut Dich aus allem raus, was Dich krank machen kann.

Wenn Du wüsstest, wie herrlich unser letztes Drittel Leben wird, Du würdest laut auflachen voller Übermut und Spannkraft. Deine unbeugsame Gesundheit wird uns noch einige Jahrzehnte begleiten.

Dir und mir steht und stand nichts im Wege, was ein aufregendes Leben voller Abenteuer und Wendungen im Alter behindert, ein Alter, das keine Arbeitspflicht mehr kennt. Und nach Dir keine Sorgen um Geld – wir haben immer genug gehabt, so wie wir immer genug gehabt haben, um sorgenfrei leben und essen zu können. Denk an unseren Wahlspruch:

Der Herr gebe mir zum Leben nicht zu viel und nicht zu wenig. Hab‘ ich zu viel, denke ich vielleicht: Wozu brauch‘ ich Gott? Hab‘ ich zu wenig, fang‘ ich vielleicht an zu stehlen…‘

Ich muss grinsen. Tatsächlich habe ich nach meinem Ausbruch aus meiner Ehe in meiner ersten eigenen Wohnung auf den Rand des großen Küchentischs diese Worte geschrieben. Und es hat sich bis heute bewahrheitet. Nie hatte ich Schulden, nie habe ich gehungert und gefroren.

„Ja, hast Du denn keinen einzigen Ratschlag für mich?“, bettle ich weiter. „Irgendein Motto oder so?“

Die dahinschwindende Eva wird langsam durchsichtig. Wie gut, dass kein Pflegepersonal den Sterbeprozess erahnt und uns stört mit Händchenhalten oder medizinischen Eingriffen.

„Ratschläge sind auch Schläge, reicht Dir das als Motto?“ Ihre geschlossenen Augen zwinkern mir zu.

OK, ich sehe es ein. Immerhin ein gutes Motto für meine Arbeit mit Menschen. Egal, ob sie süchtig sind, gewalttätig, zu dick, zu phlegmatisch, zu hochmütig, zu faul, zu gierig oder zu gehässig – ich respektiere sie alle ganz so, wie sie sind und warte, ob sie sich etwas von mir wünschen. Nie wieder Ratschläge, nie wieder etwas besser wissen wollen.

Die nächsten Minuten bleiben wir in Stille verbunden. Unglaublich, dass ich die Ehre habe, im jungen Alter von 65 meinen eigenen Tod begleiten zu dürfen – den Tod einer 97-jährigen Frau, die ihr letztes Drittel genauso frei genossen hat wie die anderen Drittel. Free Like an Eagle – bis zum letzten, kaum spürbaren Atemzug.

Ich wache noch ein wenig bei meinem toten zukünftigen Ich, so wie ich vor einigen Jahren auch bei meinen toten Eltern gewacht habe, die ich bei ihrem Sterbeprozess begleiten durfte. Meinen kleinen Hund durfte ich auch daheim begleiten, als er in Hundejahren etwa so alt war wie ich als mein zukünftiges Ich. Auch er schlief ganz friedlich ein auf meinen Knien. Was für ein unverdienter Segen!

Irgendwann geht die Tür auf und Licht fällt ins Zimmer auf das riesige Bett mit dem verschrumpelten Körperchen. Eine Krankenschwester schleicht behutsam zur frisch Verstorbenen, fühlt nach dem Puls und setzt sich seufzend auf den Bettrand.

Die Seele meiner Seele streichelt der jungen Frau liebevoll noch einmal über das Haar, bevor sie sich endgültig in die Höhe erhebt und durch die Zimmerdecke entfleucht.

Frei

Auf dem Weg in mein eigenes Bett denke ich weiter an die Liedzeile
Fly Like an Eagle
Als ich morgens erwache, lade ich sie mir rasch in meine Songliste, bevor meine Erinnerung entschwindet.

Nie wieder Ratschläge suchen, nie wieder Ratschläge geben. Eine Eva bleibt eine Eva bleibt eine Eva. Und das ist gut so.

Steve Miller Band: Fly like An Eagle

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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