Kurzgeschichte: Systemsprenger – Marina ist langweilig

Marina ist noch sehr jung auf dem Planeten Erde. Sie erinnert sich nur an einige Bruchstücke ihres dreijährigen Lebens. Da ist zum Beispiel dieses schreckliche Erlebnis, wie ihr Körper durch einen engen Tunnel in gleißendes Licht gepresst wurde und wie sie sich selbst schreien hörte. Immer, wenn man ihr einen engen Pullover über den Kopf ziehen will, erinnert sich ihr Unterbewusstsein daran. Dann diese Zerrissenheit zwischen Verweigerung und Bejahung des Lebens, als sie zum ersten Mal Nahrung durch die Warze mit warmer Flüssigkeit ansaugen sollte. Marina hat sich seitdem an vieles gewöhnt, was sie zunächst abwehrte. Kälte, Hitze, Hunger, Schmerz, Angst, Überforderung…

Kapitel 1

Marinas Mama bemüht sich, Marina jedes Unwohlsein von den Augen abzulesen. Sie erzählt Marinas gern, wie sie schon an der Säuglingswiege häufig gewartet hat auf erste Anzeichen von Unwohlsein – und diese nach Möglichkeit beseitigte, bevor Marina anfing zu weinen.

Marinas Mama tut alles, damit es Marinas gutgeht. Auch Papa und die Großeltern bemühen sich unentwegt, Marina glücklich zu machen, ihr auf liebevolle Weise zu dienen und sie alles zu lehren, was sie wachsen lässt.

Marina spielt nicht gern mit anderen Kindern. Die sind so anders als ihre Familie. Die Kinder tun nicht, was Marina sich von ihnen wünscht. Sie schauen sie auch ganz anders an als ihre Familie, deren Augen stets strahlen, wenn Marina sich ihnen zuwendet.

Marina mag nicht gern alleine sein. Dann wird ihr ganz schnell langweilig. Sie malt zwar gern und bastelt gern, doch wenn sie es allein tut, fehlen ihr das Lob und die Bewunderung der Großen. So malt und bastelt Marina meist mit ihrer Mama, oder mit ihrer Oma.

Sie weiß genau, wie sie die Beiden glücklich machen kann, wie sie Mama und Oma begeistert, ihre Augen zum Strahlen bringt. Und dann versuchen die Beiden alles, um Marina glücklich zu machen. Sie machen ihr warmen Kakao, überraschen sie mit neuen Stiften oder anderen Geschenken, sie erzählen ihr beim Basteln Geschichten oder singen mit ihr Lieder aus dem Kindergarten.

Marina ist ein braves Kind, so hört sie es oft. Ja, Marina lebt in einer Welt, die sich ihr zuneigt wie ein blühender Garten, in dem sich alle Pflanzen ehrfürchtig und voller Liebe dem Kind zuneigen, wenn es den Garten betritt.

Kapitel 2

Marina ist nun zwölf Jahre alt. Lange konnte sie das Leben außerhalb ihrer Familie gut ertragen. Im Kindergarten hatte sie einige, wenige Freunde, die sich ihr ebenfalls zuneigten wie die Blumen in ihrem Seelengarten, und auch in der Schule fand sich eine beste Freundin, die Marina beschützte und die sie liebte, so wie ihre Familie sie liebte.

Erstellt mit KI

Wenn der Unterrichtsstoff langweilig war, träumte sich Marina aus dem Raum und ertrug die Langeweile, ohne zu stören. Wenn sie etwas nicht sofort verstand, erklärten es ihr zu Hause der Opa oder die Oma. Hausaufgaben musste sie nie allein machen wie manch andere Kinder. Auch musste sie nicht in die Ganztagsbetreuung, obwohl Mama wieder arbeitete.

Alles änderte sich, als Marina die Schule wechselte. Sie kam aufs Gymnasium, gemeinsam mit einigen anderen Kindern aus ihrer Klasse. Ihre beste Freundin war nicht dabei. Diese ging nun zur Gesamtschule und sie sahen sich immer seltener.

Marina hatte nun in vielen Fächern Probleme mit dem Unterrichtsstoff. Mathe, Englisch, Erdkunde, Biologie, Geschichte, Physik… Alle Inhalte, die sie nicht direkt anzogen, rauschten an ihr vorüber. Nur Deutsch und Kunst waren noch Stunden, auf die sie sich freute. Alles andere wurde zur Qual.

Oma und Opa versuchten an den Nachmittagen, die Lerninhalte in den Kopf des Mädchens zu bekommen, doch sie hätte alles auswendig lernen müssen, um sie in der Klassenarbeit wiedergeben zu können. Das war ihr unmöglich. Alles in Marina wehrte sich gegen diese Fremdbestimmung. So oft sie auch im Englischen abgefragt wurde oder Mathematikformeln erklärt bekam – Marinas Kopf weigerte sich, den ungewollten Input hereinzulassen. Sie verweigerte sich der Versuche von Oma und Opa, sie auf Klassenarbeiten vorzubereiten, wurde trotzig und verletzte die beiden mit ihrem Widerstand, wofür sie sich selbst hasste.

Marina weigerte sich irgendwann, weiter zur Schule zu gehen. So ohne Schutz ihrer besten Freundin lernte sie kennen, was Angst ist. Zwar ließen sie die Kinder in ihrer Klasse in Ruhe, doch sie spürte deren Verachtung, weil sie so schlecht war in den meisten Fächern. Sie hatte Angst davor, aufgerufen zu werden, hatte Angst vor den Prüfungen und Prüfungsergebnissen. Hausaufgaben machte sie nur noch morgens auf der Schultoilette – wenn sie ein Kind fand, das die abschreiben ließ.

Oma und Opa hatten irgendwann aufgegeben, ihr helfen zu wollen. Sie sorgten sich im Stillen um ihr geliebtes Enkelkind, doch sie fühlten sich mit den Hausaufgaben und dem Lehrstoff überfordert und gaben auf.

Marina wurde krank, um nicht mehr zur Schule zu müssen. Es begann mit ständigen Baumschmerzen und Verdauungsproblemen, sie wollte am liebsten gar nichts mehr essen. Rasch kamen seelische Auffälligkeiten hinzu. Panikattacken in Aufzügen und Menschenmengen, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit durchzogen ihre Tage sowie der Hang zu düsteren Visionen in den Bildern, die sie täglich zeichnete. 

Ihre Eltern suchten eine Kinderpsychologin auf und befolgten alle Ratschläge, so gut sie es vermochten. Marina ging gern zu den Sitzungen – dort fühlte sie sich endlich wieder so geborgen wie damals als kleines Kind, als ihre Welt sich ihr noch zugeneigt hatte wie in einem Paradiesgarten.

Irgendwann empfahl die Psychologin, dass Marina stationär behandelt werden solle. Marina musste einige Monate in eine Einrichtung, weit weg von daheim. In der Einrichtung ging es streng zu. Sie hatte von morgens früh bis zum Schlafengehen ein straffes Programm. Verweigerungen wurden bestraft, zum Beispiel, indem sie abends nicht mit ihren Eltern telefonieren durfte. Einmal in der Woche durften die Eltern sie besuchen – doch bei Verweigerung konnte sogar das verboten werden. Am Schlimmsten war es, wenn sie am Wochenende nicht nach Hause durfte. Das hatte Marina einmal provoziert – und danach nie wieder.

So lernte Marina, nachzugeben. Sie fand gute Freunde unter den Kindern, die wie sie seelische Probleme hatten. Nach einigen Wochen war sie sogar gern in der Kinderpsychiatrie. Wenn die Eltern sie Montags morgens wieder dorthin fuhren, freute sie sich auf ihre Freunde, auf die Pferde und anderen Tiere in der Einrichtung, auf das Programm und die vielen Gespräche und Übungen.

Doch als sie irgendwann wieder zu Hause war, schlichen sich die alten Probleme wieder ein – und neue kamen hinzu. Marina nervte die ständige Sorge ihrer Familie, die ständigen Versuche, ihr zu helfen, ein funktionierendes Mitglied dieser dämlichen Gesellschaft zu werden. Sie vermisst ihre Freunde aus der Psychiatrie, und sie fing an, sich zu ritzen, um ihrem Protest Ausdruck zu geben. Sie provozierte ihre hilflosen Eltern, bis diese weinten und verzweifelten. Oma und Opa zogen sich traurig immer mehr zurück.

Irgendwann erhielt sie die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ihre kreative Ausdrucksweise war pornografisch so extrem geworden, dass der Verdacht aufkam, sie wäre als Kind sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Ihr Papa wurde von ihrer Therapeutin nach einer sexuellen Präferenz gegenüber dem Kind befragt, nachdem Marina in den Sitzungen Erinnerungen wiedergab, die die Aufmerksamkeit der Expertin erregten.

Marina machte es Freude, ihre Eltern zu quälen. Sie wusste einfach nicht, wohin mit ihrer ungerichteten Wut – und sie hatte gelernt, dass alles, was mit ihr nicht stimmte, auf die Familie zurückzuführen war, die sie geprägt hatte. Ihr Hass auf Vater und Mutter wurde immer stärker. Oma und Opa hingegen wurden in ihrer Phantasie zu regelrechten Heiligen – auch wenn sie diese immer seltener sah, was die Großeltern mit Krankheitsgründen entschuldigten.

Irgendwann kam dann der große Knall. Ihr Vater, der aufgrund Marinas Erinnerungen immer mehr verdächtigt wurde, seine Tochter als Kind sexuell missbraucht zu haben, fuhr in rasender Geschwindigkeit mit seinem Auto vor eine Betonmauer und starb.

Marina glaubte in der Zwischenzeit selbst an ihre Erinnerungen, doch dieser Selbstmord veränderte alles. Auch wenn sie weiterhin in der Vorstellung lebte, ihr Vater habe sie als Kleinkind unsittlich berührt und zu unsittlichen Berührungen animiert, wenn sie bei ihm im Bett schlief, fand sie nach seinem Tod zurück zu der ersten großen Liebe auf dem Planeten Erde – ihrem wunderschönen, klugen, zärtlichen und sie über alles liebenden Vater.

Marina zog mit sechzehn Jahren daheim aus – in eine Wohngruppe für Jugendliche. Dort lebte sie zusammen mit Menschen wie ihr. Die meisten ihrer neuen Freunde hatten zwar ganz andere Kindheiten als Marina mit ihrer liebevollen Familie, doch niemand neidete ihr das. Sie lernte Erinnerungen kennen, die von unsäglicher Angst, Gewalt und Einsamkeit geprägt waren. Einige der jungen Leute waren schon mit sechs Jahren ins Heim gekommen wegen Kindeswohlgefährdung.

Marina lebte einige Jahre in dieser Gemeinschaft der Überlebenden als Gleiche unter Gleichen. Sie verliebte sich in einen hochgewachsenen Jungen, der ein geschickter Dieb war und ihr beibrachte, wie man in Geschäften unentdeckt klaut. Trotz aller Bemühungen der Betreuer fing Marina an zu trinken, zu kiffen, auch andere Drogen auszuprobieren.

Den traurigen Jungen, der so voller Hass und Mut war, liebte sie voller Hingabe, auch wenn sie sich oft leidenschaftlich stritten. Als der Junge die Wohngruppe mit achtzehn verlassen musste, riss sie aus und die Beiden zogen wohnungslos durch die Punkergemeinschaften Deutschlands und Südeuropas. Marina würde sich ihr Leben lang an diese Zeit erinnern als die schönste Zeit ihres Lebens. Doch auch diese Zeit fand ihr Ende, als der traurige Junge starb. Er hatte sich unter einen Zug geworfen.

Kapitel 3

Marina hat ihren Weg gefunden nach diesem zweiten Tod, für den sie sich verantwortlich fühlt. Sie hat sich geschworen, nie wieder einen Tag so zu beenden, dass sie nicht dazu stehen kann, was sie an dem Tag gefühlt, gedacht, gesagt oder getan hat.

Leider hat Marina es nicht rechtzeitig geschafft, sich mit ihrer Familie zu versöhnen. Als sie endlich den Mut fand, sie zu besuchen, waren ihre Großeltern schon gestorben. Nur ihre Mutter lebte noch. Die Beiden fielen sich weinend um den Hals und sind seitdem engste Freundinnen. Marina hat ihr Abitur nachgeholt, Soziale Arbeit studiert und kümmert sich heute um Jugendliche, die so ähnlich leben, wie sie es getan hat. Sie wird respektiert und bewundert von den meisten. Und Marina hat einen Wahlspruch, den sie oft wiedergibt bei einem neuen Fall:

„Deine Kindheit war vielleicht grausam, vielleicht traurig, vielleicht voller Lieblosigkeit, Scham und Schuld – aber glaube mir, Bullerbü ist auch keine Lösung.“

Kurzgeschichte von Eva Ihnenfeldt vom 6. Oktober 2024

Seit über zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Manager/Innen. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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