Einzelkinder und ihre „In-mir-drin-sein“ Welten

Was uns Einzelkinder wohl verbindet ist, dass unsere Kindheit kalkulierbarer ablief als die Kindheit von Geschwisterkindern. Geschwister sind schließlich auch Kinder. Sie fühlen, denken und handeln spontan – sind weitaus unberechenbarer als Erwachsene. Selbstverständlich können Erwachsene einem Kind das Leben zur Hölle machen – doch kalkulierbarer als Kinder sind sie auch dann. Mir fehlt also ein ganzes Stück die Erfahrung, aus meinem „In mir drin sein“ herausgerissen zu werden. Was hat das für Konsequenzen? Wie hat mich das geprägt?

1. Schlechte Erfahrungen sitzen tief

Bild von Anastacia Cooper auf Pixabay 

Alle Menschen kennen das: Sie sollen etwas essen, was sie nicht kennen. Sie probieren misstrauisch und verspüren intensiven Ekel. Von nun ab sind sie geprägt: „Nie wieder werde ich das essen – nie wieder!“. So geht es mir mit allen schlechten Erfahrungen. Verspüre ich körperlich intensive Abwehr gegen eine Erfahrung, schwör ich mir, mich diesen auslösenden Reizen nie wieder aussetzen zu wollen.

Wahrscheinlich denken deshalb auch viele Einzelkinder, sie wären hypersensibel. Zumindest bei mir trifft das nicht zu. Ich bin nicht hypersensibel – ich bin einfach nichts gewöhnt! Bin sozusagen ein Kaspar Hauser der überraschenden Grausamkeiten. Man kann sich vorstellen, wie dieser „Ekel“ gegen emotionale Erschütterungen meinen Radius im Laufe meines Lebens immer weiter eingeschränkt hat. Ich lebe heute vor Allem nach einem Prinzip „Da wo es gut riecht, geh ich hin. Da wo es schlecht riecht, geh ich weg“.

2. Loyalität muss was aushalten können

Meine Erschütterungs-Unverträglichkeit führt dazu, dass Treue und Loyalität keine Attribute sind, deren ich mich rühmen könnte. Wer setzt sich schon laufend Reizen aus, die ihn erschrecken! Ich liebe Menschen sehr (falls man das „Liebe“ nennen kann) aber ich pass auf, dass ich mich ihnen nicht ausliefere. So ist eines meiner Vorbilder Mary Poppins. Sie schwebt herbei, macht ihren Job – und fliegt wieder weg in ihre „In-mir-drin-sein“ Heimat. Oh wie gern möchte ich genau so sein wie sie!

3. Alles hat seinen Preis

Menschen, die in ihrer Kindheit sehr viel Kinder und Familie um sich hatten – eventuell sogar auf beengtem Raum zusammen gelebt haben – lieben und brauchen die damit verbundene Geborgenheit. Man hält zusammen und man kennt sich gut. Familie ist alles, vor Allem in Notzeiten. Wenn alles andere weg bricht, bleibt die Familie.

Ich habe gelernt, dass Loyalität und Zusammenhalt gerade bei Familien, denen der Zugang zu Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung verbaut ist, beneidenswert ausgeprägt ist. Nicht nur innerhalb der eigenen Familie – sondern auch innerhalb des sozialen Umfelds hält man zusammen. Verwandte, Nachbarschaft, Freunde, Kollegen – gehört alles dazu. Das soziale System fühlt sich an wie ein erweiterter Körper. Daraus auszubrechen schaffen nur diejenigen, die Einsamkeit erträglicher finden als das, was sie an Gemeinschaft kennen. Leicht ist das wahrlich nicht…

Ich hingegen weiß als Einzelkind sehr gut, was Einsamkeit im Alltag ist. Langeweile war in meiner Kindheit mein täglicher Begleiter. Ich lebte sozusagen in einer Alltags-Quarantäne. Am Liebsten war ich alleine. Die Welt da draußen war unkalkulierbar und bedrohlich. Einzelkinder befreunden sich im Kindergarten und in der Schule oft mit anderen Einzelkindern. Man kennt sich, man lässt sich gegenseitig seinen Raum und seine Schrullen. Streitet man sich, erfolgt eher Rückzug als Kampf.

4. Einsamkeit, der vertraute Begleiter

Einzelkinder können häufig besser einsam sein als Geschwisterkinder. Auch ich liebe es, in meiner „In-mir-sein“-Zelle Geborgenheit zu verspüren. So lange meine materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, ist alles machbar. Bin ich allerdings auf Hilfe von anderen Menschen angewiesen, habe ich ein Problem.

Nur wer Anderen viel hilft, kann auch um Hilfe bitten, wenn es ernst wird. Ich bin eher der (Groß-)Städter, der sich freundlich mit den Nachbarn grüßt. Ich bin nicht der Nachbar, der verbindliche Freundschaften schließt. Freundlich, zugewandt, hilfsbereit – aber immer schön unverbindlich bleiben!

5. Einzelkind, was nun?

Meine pingelige Art, Gefühle auszusortieren in „will ich, will ich nicht“, führt also dazu, dass ich zu Treue und Zusammenhalt kaum noch fähig bin. Als junger Mensch war das noch anders, da ich liebessüchtig war, voller Leidenschaft, Hingabe und Enthusiasmus. Heute sind Authentizität, Handlungsautonomie und Empathie an die Stelle von Loyalität getreten. Ich bin ein verschrobener Einzelgänger, und ich bewundere und liebe Menschen, so wie ein Tierschützer Tiere liebt und bewundert.

6. Mary Poppins ist doch auch ok!

Ja, alles hat seinen Preis. Meine Kinder wissen, dass ich so bin wie ich bin. Sie mussten sich damit arrangieren – jede/r auf seine Weise. Oder wie meine jüngste Tochter so schön sagte: „Mama, Du bist ein guter Mensch – aber Du nimmst so viel Raum ein, man kann Dich immer nur in Häppchen genießen“.

Ich bin erleichtert, dass ich anscheinend kein egoistisches Monster bin wie der Geizige von Charles Dickens – doch es tut mir trotzdem leid, dass ich nicht in der Lage bin, dauerhaft in einer Gemeinschaft zu leben und dort für alle gut zu sein. Ich brauche meine Handlungsautonomie so sehr, dass ich lieber unglücklich bin als gefangen. Sperr mich ein, und Du bist mich los. Muss ich zwischen Liebe und Freiheit wählen, wähle ich die Freiheit.

Mary Poppins ist doch auch ok! Was für ein wunderbarer Trost, wenn ich mal wieder an meinen Einzelkind-Allüren verzweifle. Ich habe gelernt, mich zu analysieren und gerade in Zeiten, in denen ich Angst verspüre, mein eigener Therapeut zu sein und Lösungen zu finden. Und es funktioniert bisher erschreckend gut!

7. Einzelkinder und die Selbstwirksamkeit

Ich habe so viel Abstand zu mir selbst gewonnen im Laufe meines Lebens, dass ich mich selbst beobachten kann, ohne diese laufenden Wertungen vorzunehmen, die ich ethisch so verabscheue. Ich weiß, dass ich selbst Gestalter meines Lebens bin. Es gibt sich über nichts und niemanden zu beschweren. Niemand ist schuld, wenn es mir schlecht geht – auch ich nicht. Schuldgefühle wirken wie Balken vor den Augen – und nur, wer stolz auf sich ist, kann sich aus allen Situationen herausziehen.

Bild von Susann Mielke auf Pixabay 

Ich glaube, Geschwisterkinder und Einzelkinder können viel voneinander lernen, wenn sie die Andersartigkeit zulassen. So wie alle Kasten und ethischen Systeme viel voneinander lernen können, wenn sie dem Fremden zuhören und sich darauf einlassen. Ich liebe es, anderen Menschen zuzuhören und ihre Andersartigkeit verstehen zu lernen, weil es mich verändert und mich erlöst aus meiner reizarmen „In mir drin sein“-Einzelkind-Welt.

Ich habe Stück für Stück Zuhören gelernt. Ich habe Stück für Stück gelernt, dass Zuhören seliger ist als Reden. In den Gesprächspartner regelrecht „hereinkriechen“, ist mir meine Medizin gegen Bitterkeit und Verhärtung. Die zauberhaften Welten anderer Menschen kennen lernen zu dürfen, ist mir eine Ehre und Freude, die ich niemals missbrauchen möchte.

Immer wieder bin ich überwältigt davon, wenn mir Menschen Vertrauen entgegenbringen und mir Dinge erzählen, die tief in ihr Seelenleben blicken lassen. Eigentlich sind diese Gespräche ein bisschen wie liebender Sex – nur ohne Körper. Ich habe mich transformiert. Und ich ziehe viel aus diesen Begegnungen. Danke dafür.

8. Was ich nun lernen will

Was ich als Nächstes lernen möchte ist die Kunst, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Ich weiß, dass Rat-Schläge das Schlimmste sind, was ich tun kann. Bleiben wir beim Bild von liebendem Sex, sind Rat-Schläge so etwas wie sexuelle Übergriffe. Man zwingt dem Gegenüber den eigenen Willen auf. Auch wenn viele Menschen regelrecht süchtig danach sind, Rat-Schläge zu erhalten, sollte ich komplett verlernen, so zu handeln.

Ich will Kung-Fu-Meister der konstruktiven Kommunikation werden, ich will meinem Gesprächspartner seine eigene Kraft spiegeln – nicht mehr und nicht weniger. Ich will lernen, zu fragen und zuzuhören. Und ich will Vertrauen haben in die Ressourcen meines Gegenübers, auch wenn sich dieses in einer schlimmen Lage befindet – Du schaffst das!

Ja, Ihr Geschwisterkinder seid vielleicht loyaler und kampferprobter in Euren Systemen und Wirklichkeiten, doch wir Einzelkinder sind vielleicht erprobter in Einsamkeiten und in der Fähigkeit, uns am eigenen Schopf aus dem Moor zu ziehen. Ihr seid vielleicht sozialer und teamfähiger – aber wir sind vielleicht ehrlicher und naiver, was menschliches Zusammenleben angeht. Wir können viel voneinander lernen, und das ist die beste Medizin für die Heilung unserer geschundenen Seelen.

9. Bitte um Nachsicht

Bild von Gitti Lohr auf Pixabay 

Dies habe ich geschrieben, um ein wenig um Verständnis zu bitten für die vielen Kaspar Hausers dieser Welt. Einzelkinder wachsen wie Pilze aus dem Boden, und allein der Begriff „Einzelkind“ ruft Misstrauen hervor. Uns wird unterstellt, dass wir verwöhnt und ichbezogen sind, dass es uns an sozialer Intelligenz fehlt und dass wir immer nur unseren eigenen Willen durchsetzen wollen.

Aber haben uns die Märchen von den einsamen Heldinnen und Helden nicht auch immer fasziniert? Die Müllerstochter, die ihre ganze Jugend über im Keller eingeschlossen Gold spinnt, die gefangene Rapunzel mit dem ungeschnittenen Haar hoch oben im Turm; der zu Stein verzauberte Königssohn und der verkrüppelte, vergeltungsfähige Kriegsveteran…

Vielleicht ist es kein Zufall, dass es immer mehr Einzelkinder gibt in Wohlstands-Gesellschaften. Vielleicht haben wir Einzelkinder Fähigkeiten, die in technologisierten Gesellschaften gebraucht werden. Nachdenklichkeit, Introvertiertheit, Eigenbrödlerei und Sensibilität gegenüber Außeneinflüssen – könnte doch sein! Ich bitte auf jeden Fall um Nachsicht für die vielen vielen „In mir drin sein“ Wesen. Mary Poppins muss es auch geben. Und den Geizigen aus Charles Dickens auch…

Seit fast zwanzig Jahren auf der "freien Wildbahn" hat Eva Ihnenfeldt sowohl 2004 eine eingetragene Genossenschaft für Existenzgründer gegründet als auch 2011 eine Akademie für die Ausbildung von Social Media Unternehmenden. Lange Zeit war sie Dozentin und Trainerin für Marketing, Kommunikation und Social Media. Heute arbeitet sie als Coach für Menschen im beruflichen Wandel. Ihre Stärke ist es, IST-Situationen zu akzeptieren, Visionen zu erkennen und gemeinsam mit ihren Klienten Strategien zu entwickeln, die sich auch in der Praxis bewähren. Mobil: 0176 80528749 - E-Mail: [email protected]

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